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Ich sah das Mädchen mit der Schlange. Ida joggte den Weg entlang. Doch plötzlich blieb sie stehen und wandte ihren Kopf zur Seite. Allerdings von uns abgewandt. Zwischen den Bäumen leuchtete etwas Blaues. Liam neben mir erstarrte.
Das Blaue kam näher. An meinem Körper richteten sich alle Härchen auf, so als ob sich ein elektrisches Feld gebildet hätte.
Ich sah, dass es eine Form hatte – was auch immer da auf uns zukam – aber nicht materieller Natur war. Es bewegte sich durch die Bäume hindurch, als wären sie nicht da. Schließlich streckte es seinen gewaltigen Kopf zwischen den Bäumen hervor. Ein Drachenkopf.
Ida schrie auf und tastete hektisch nach ihrer Kreide.
Der Drache legte den Kopf schief und sah gelangweilt zu. „Einer von Leviathans Gefolgsleuten hier in meinen Wald. Unangenehm.“
Ida hatte ihre Kreide gefunden und zeichnete damit auf den Boden.
Der Drache lachte. Das Geräusch war so gewaltig und dumpf, dass ich es im Boden vibrieren spürte. Es kondensierte zu einem Brocken Angst in meinem Bauch.
„Du glaubst Magie kann etwas gegen mich ausrichten?“
Ida beendete ihre Zeichnung.
Der Drache verdrehte seine Augen mit den geschlitzten Pupillen. Anschließend öffnete er sein Maul, in dem riesige, spitze Zähne zu sehen waren. Der Drache atmete geräuschvoll ein und entließ einen Strahl aus blauem Feuer.
Ein Schrei voller Schmerz und Entsetzen gellte durch den Wald. Als das Feuer verschwand, war von dem Mädchen und der Schlange nichts mehr zu sehen.
Eine weitere meiner Mitschülerinnen war vor meinen Augen gestorben. Ich betete, dass ich nicht die nächste war, machte mich so klein wie möglich und presste mich ins Laub. Der Drache sah sich um und ging weiter durch den Wald, nur wenige Meter an uns vorbei. Seine Klauen berührten nicht ganz den Boden. Geräuschlos glitt sein gewaltiger, beschuppter Körper durch jede Pflanze hindurch. Hinter ihm her schwang locker sein Schwanz. Durchdringende Kälte erfasste mich, von der ich nicht sagen konnte, ob sie natürlichen Ursprungs war.
Reglos blieb ich in meinem Versteck liegen und wagte kaum zu atmen. Zeit verging, bevor Liam und ich uns rührten.
„Was war das?“, fragte ich.
„Der Geist eines Drachen. Mein Vater erzählte mir, dass er früher der Feind des Meisters der Finsternis war. Der Meister besiegte ihn zwar, aber die treuen Anhänger des Drachen opferten ihre eigene Lebenskraft, um seinen Geist zu retten. Jetzt ist er ans Diesseits gefesselt. Weder lebendig noch tot.“
„Wenn er den Meister der Finsternis so sehr hasst, warum geht er dann nicht einfach ins Schloss und verbrennt ihn?“
Liam seufzte, als wäre die Antwort auf diese Frage völlig offensichtlich. „Das Schloss ist mit einem mächtigen Schutzzauber ausgestattet. Solange der wirkt, kann der Drache es nicht betreten.“
Also solange der Meister der Finsternis das Schloss nicht verließ, war er in Sicherheit. Wenn mein Tod nicht so kurz bevorstünde, hätte ich mit dieser Erkenntnis vielleicht etwas anfangen können. „Was glaubst du, wie viel Zeit mir noch bleibt, bevor das Gift mich tötet?“
Liam sah mich an. Sein Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Hatte er Mitleid mit mir? „Nicht mehr viel.“
Tief durchatmen. Was auch immer ich noch mit meinem Leben vorgehabt hatte, mir blieb keine Zeit mehr. Merkwürdigerweise spürte ich kaum Furcht. Irgendwie hatte ich meine Niederlage akzeptiert. Was geschah wohl mit mir nach dem Tod? Was war mit Ida geschehen? Gab es so eine Art Jenseits?
„Wir können nicht aufgeben.“ Liam sagte das so entschlossen, als gäbe es noch irgendeine Chance.
Tränen rollten über meine Wangen und meine Atmung wurde unregelmäßig. War es der Schock über Idas Tod? Oder doch Angst vor meinem eigenen? Ich wünschte mich so sehr nach Hause zurück – in Sicherheit.
„Psscht!“, zischte Liam plötzlich.
Ich hielt die Luft an und schluchzte lautlos. Etwas kam auf dem Weg. Hatte es uns gehört?
Das Wesen bewegte sich in Sprüngen fort und war etwas größer als ein Wolf. Als es nah genug war, erkannte ich im Mondlicht, dass es tatsächlich große Ähnlichkeiten mit einem Wolf aufwies. Aber es war viel muskulöser und die Zähne etwas zu groß, sodass sie spitz über die Lefzen ragten.
Mein Herzschlag beschleunigte sich in wenigen Sekunden wie zum Sprint. In meinem gefesselten Zustand hatte ich keine Chance gegen dieses Monster zu bestehen. Das Tier blieb vor unserem Versteck stehen und schnüffelte auf dem Boden. Es wich vom Pfad ab und näherte sich uns. Schließlich richteten sich seine gelben Raubtieraugen auf mich. Ich starrte zurück. Zeit zu sterben.
Doch das Wesen griff nicht an. Es wäre so mühelos gewesen, die kurze Distanz zu überwinden und mich zu zerfleischen, doch stattdessen trat zurück.
Das Wesen veränderte sich. Sein Fell fiel ihm aus, die Beine schwollen an, die Schnauze verkleinerte sich. Vor meinen Augen verwandelte sich das Monster in den Jungen, der mir bereits einmal das Leben gerettet hatte. Es war Wolf. „Wieso liegt ihr da so?“
Ehe ich zu Wort kam, sagte Liam: „Hör auf dumme Fragen zu stellen und befrei uns lieber!“
Die Erleichterung durchströmte mich süß und hell. Jetzt hatte ich wieder eine Chance diese Nacht zu überleben. Eine winzige.
Wolf verwandelte einen seiner Finger in eine Klaue und zerschnitt damit genug Goldseile, um uns zu befreien.
„Was sollen wir jetzt tun? Isabella hat bestimmt bereits das Gegengift aus der Quelle genommen!“
„Was für ein Gegengift?“
„Arcanos hat sie vergiftet und ein Rätsel gestellt, das man Lösen muss, um sein Gegengift zu finden.“
„Und Isabella klaut deins aus der Quelle?“
„Nein, ich-… das ist jetzt zu kompliziert! Ich weiß nicht, wo mein Gegengift ist und ich habe keine Zeit mehr.“ Wieder stiegen Tränen in mir auf, die ich mit aller Kraft bekämpfte.
„Wie lautet denn dein Rätsel?“, fragte Wolf.
„Eins zu zwei. Schau der roten Sonne nach. Dunkelheit.“ Nach wie vor fiel es mir schwer irgendeinen Sinn darin zu entdecken.
„Die rote Sonne ist entweder der Sonnenaufgang oder der Sonnenuntergang. Es geht wahrscheinlich um eine Himmelsrichtung“, sagte Liam.
Aber was bedeutete eins zu zwei? Ging es um einen Punktestand? Ein Mischungsverhältnis? Einen Maßstab? Das alles passte hier nicht hinein. Vielleicht ging es ja weniger um eine Angabe, als um einen Vorgang. „Bedeutet eins zu zwei vielleicht das etwas kaputt gegangen ist? Es wurde gespalten und besteht nun aus zwei Teilen?“
Erkenntnis leuchtete über Wolfs Gesicht. „Im Wald auf der anderen Seite des Sees gibt es einen Baum, der mal von einem Blitz in zwei Hälften gespalten wurde.“
„Dann ist dieser Baum der Ausgangspunkt und von dort aus müssen wir entweder nach Osten oder nach Westen“, sagte Liam.
„Wir haben keine Zeit mehr“, flüsterte ich.
Liam warf mir einen strafenden Blick zu. „Wir werden dieses Gegengift rechtzeitig bekommen.“ Er deutete den Weg entlang, den wir gekommen waren. „Wir müssen zurück zur Lichtung, von dort aus kann ich zu dem gespaltenen Baum fliegen.“
Wir rannten los. Wolf vorneweg, ich in der Mitte, Liam am Schluss. Als wir die Lichtung erreichten, wollte Liam mich sofort auf die Arme nehmen, doch ich erhob eine stoppende Hand. „Einen Moment!“
Schnell drehte ich mich zu Wolf um und schloss ihn in eine feste Umarmung. Wie beim letzten Mal versteifte er sich wie ein Holzbrett. „Danke, dass du uns gerettet hast. Du bist wirklich ein guter Freund.“
Ich wirbelte zu Liam herum und er hob mich hoch, bevor er sich vom Boden abstieß und uns mit kräftigen Flügelschlägen dem Nachthimmel entgegenbrachte.
Liam und ich hielten nach dem Baum, den Wolf beschrieben hatte, Ausschau, während Liam eine große Runde um den Waldrand flog. Zwar war mir die Höhe nach wie vor nicht geheuer, aber in Anbetracht der Tatsache, dass meine Zeit beinahe abgelaufen war, hielt sich meine Furcht vor einem Sturz in Grenzen. Schließlich fanden wir den Baum und landeten davor. An ihm hingen schon lange keine Blätter mehr, die Rinde war zersetzt. Der Stamm war gespalten und die Krone der beiden Hälften zog den Baum in entgegengesetzte Richtungen dem Boden entgegen. Eins zu zwei.
„Von hier aus ist es wohl ziemlich klar, dass es nur eine Richtung gibt, in die wir gehen können“, sagte mein Begleiter, während ich mich von seinen Armen herunterstrampelte. Er deutete in eine bestimmte Richtung. „Westen.“ Auf der anderen Seite waren der See und das Schloss.
Mein Herz raste. „Was glaubst du, wie viel Zeit ich noch habe?“
Ein gequälter Ausdruck zeigte sich in seinem Gesicht. „Ich bin mir nicht so sicher.“ Das klang wie eine Lüge.
Ich wandte mich von ihm ab und kämpfte mich durch den Wald, in die Richtung, in die er gedeutet hatte. Den Geräuschen nach zu urteilen, tat Liam hinter mir das gleiche. Meine Todesangst trieb mich zu Höchstleistungen an – aber das reichte einfach nicht.
Nach kurzer Zeit spürte ich, wie das Gift in meinem Körper meine Arme und Beine schwer machte. Zwar kämpfte ich mich weiter voran, doch meine Bewegungen wurden langsamer und schwächer. Meine Sicht verschwamm.
Schließlich knickten meine Beine unter mir ein und ich fiel auf den Waldboden.
„Nora!“ Liam war sofort bei mir. Er strich mir die Haare aus dem Gesicht.
Ich konnte mich nicht rühren. War so müde. Meine Augenlider drohten mir zuzufallen.
Liam klopfte auf meine Wange, um mich wach zu halten. „Gib gefälligst nicht auf!“
Ich seufzte. Meine Lider wurden schwer, obwohl ich dagegen ankämpfte. Ich konnte mich nicht wehren. Das Letzte, was ich in meinem Leben mitbekam, war, dass Liam sich zu mir herunter beugte und mich küsste. Seine Lippen waren warm und weich und sein Atem roch und schmeckte so herrlich, dass ich wünschte, mir würde mehr Zeit bleiben. Gleichzeitig war ich verwirrt – aber es war ein guter letzter Eindruck aus meinem verkorksten Leben.
Die Schwärze des Todes zog mich unerbittlich in die Tiefe.
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