Moin Leser*in
Ich nehme diesen Monat wieder an der Challenge NaNoWriMo Teil. Dabei geht es darum zu versuchen im November den ersten Entwurf eines Romans zu schreiben. Das klassische Ziel ist es, dabei 50 tausend Worte zu erreichen.
Ich habe unterwegs mein Ziel geändert und wollte eine Novelle mit deutlich weniger Worten schreiben. Gestern war ich dann plötzlich fertig – die Geschichte hatte zu einem natürlichen Ende gefunden. Was nun? Ich entschied nach längerem hin und her die gleiche Geschichte nochmal zu schreiben. Ich habe von Kerstin Gier (einer meiner Lieblingsautor*innen) gelesen, dass sie öfters einen Roman schreibt, den sie dann nach 2/3 der Zielgeschichte löscht und von vorn beginnt. Eine meiner Lieblingsyoutuber*innen, die übers Romanschreiben vloggt, schreibt einen „Entwurf 0“ in dem sie die Geschichte und die Figuren entdeckt, bevor sie nochmal von vorne anfängt. Ich selbst habe bisher noch nie eine Geschichte komplett von vorne begonnen. Bis heute. Ich muss aber sagen, dass mein erster Beginn mir mehr gefiel… Was sagst du?
Version 1
F… F… Niwas Hände und Augen verkrampften, während sie durch die Zutatenliste für das heruntergesetzte Katzenfutter ging. Ihre Besucherin mochte die Abwechslung, doch sie hasste Fisch. Der Block der Zutatenliste sah aus wie ein Gewirr aus Hieroglyphen. Eine andere Kundin ging an Niwa vorbei und warf ihr einen schrägen Blick zu. Peinlich berührt steckte Niwa das Katzenfutter in ihren Einkaufskorb. Hatte sie etwa laut entziffert? Vehement schüttelte sie Erinnerungen an lachende Klassenkameraden und tadelnde Lehrerbemerkungen ab. Das war alles lange her.
Später in der Wohnung – ein Einzimmerapartment, das Niwa sich von ihrer Schwarzarbeit als Anstreicherin leistete, ließ ihre Besucherin sich tatsächlich blicken. Eine abgekämpfte, rot getigerte Katze saß auf der Feuertreppe vor dem Fenster und starrte aus dem einen verbliebenen Auge herein. Niwa wurde warm ums Herz. Sie trat an das Fenster und versuchte es zu öffnen – wie üblich klemmte das blöde Ding. Ihre Besucherin trat zurück und sah aus, als würde sie jede Sekunde bei Gefahr ausreißen. Kitty (wie Niwa die Katze insgeheim nannte) war kein vertrauensseliges Tier, aber das war okay. Niwa vertraute anderen auch nicht so schnell. Endlich gab das Fenster nach und schwang in den Raum auf. Die plötzliche Bewegung ließ Kitty nochmal zurückzucken. Niwa machte ihr Platz. Schließlich kam Kitty näher, musterte das Zimmer, als hätte sie es nicht schon an die zwanzig Mal betreten und sprang schließlich herein. „Ich habe dir etwas Besonderes gebracht“, sagte Niwa mit extra weicher Stimme und goss das Futter in einen gesprungenen Teller, den sie dann in Zeitlupe absetzte und sich noch weiter zurückzog, um ihrer Besucherin Platz zu machen.
Niwa drehte die Lautstärke ihres alten Radios herunter, bevor sie es einschaltete. Kittys zerfetzte Ohren zuckten, sonst ließ sie sich von dem Geräusch nicht stören. Sie schlich näher an das Futter heran, warf Niwa einen letzten skeptischen Blick zu und begann zu fressen. Währenddessen spielten sie im Radio das Ende eines Liedes auf Englisch dessen Worte Niwa nicht verstand. Kaum hatte Kitty den ersten Bissen im Maul, ließ sie das Futter fallen und fauchte verärgert, bevor sie sich umdrehte und Anstalten machte, die Wohnung zu verlassen. „Nein, was hast du denn? Kitty!“
Doch die Katze ignorierte Niwa und sprang zum Fensterrahmen hoch, bevor sie über die Feuertreppe verschwand. War etwa doch Fisch… aber sie hatte doch die Zutatenliste angesehen. Frustriert griff Niwa nach der Schachtel, die ihren einzig angenehmen sozialen Kontakt für heute abrupt beendet hatte. Jetzt blieb Kitty bestimmt wieder Tage lang weg.
Es dauerte eine halbe Stunde sich lautierend durch die Zutatenliste zu kämpfen. Buchstaben mussten zu Lauten entziffert werden und Laute mussten zu Silben und Wörtern zusammengesetzt werden. Es war mühsam und anstrengend, ehe ein Sinn aus dem Kaudawelsch wurde – und schließlich fand Niwa das Problem: Hering. Mit H.
Frustriert über sich selbst warf sie die offene Schachtel Katzenfutter durchs Fenster in den vermüllten Hinterhof, bevor sie das Fenster zuknallte. Sollte sich eine andere Streunerin darüber freuen.
In diesem Moment drang die Stimme des Radios wieder zu ihr durch, die sie bislang ignoriert hatte: „Sie haben Probleme mit dem Lesen, Rechnen oder Fremdsprachen? Sie haben keinen Schulabschluss? Dann haben wir die Lösung für Sie: bewerben Sie sich jetzt bei Lernwelten! Lernwelten, dem Trainingsprogramm, das sich individuell auf Sie und Ihre Bedürfnisse zuschneidet und Ihnen sogar ermöglicht, einen Schulabschluss nachzuholen! Lernwelten funktioniert mit neuester KI-Technologie. Bewerben Sie sich jetzt als Testperson bei Lernwelten und nehmen Sie Teil am Pilotprojekt für Bildung! Ein Anruf oder eine Nachricht an Lernwelten genügt…“
Version 2:
1
Der Brief starrte zurück. Ein Schriftstück mit mehreren Textblöcken – oben rechts zwei, oben links einer, aus dem nur Niwas Name ihr entgegenstach, und das Monster in der Mitte. Der Brief verbog sich unter dem angespannten Griff der jungen Frau, die ihn hielt. Sie starrte das Stück Papier an und versuchte den ersten Satz des mittigen Textmonsters zu lesen. Ihre Gesichtszüge wurden hart, ihre Augen zusammengekniffen und ihre Lippen formten Buchstaben, versuchten Laute den Hieroglyphen zuzuordnen. Der Stress war so groß, dass nach wenigen Buchstaben des ersten Wortes ihre Gedanken dicht machten und in ihrem Kopf nichts mehr war als diese umklammernde Leere und all die zerstörerischen Gefühle.
Sie legte den Brief zur Seite und atmete tief durch, versuchte die Vorwürfe gegen sich selbst abzuwehren, die sie sofort innerlich angriffen. Wieso konnte sie diesen Brief nicht selbst lesen? Wieso musste sie damit quer durch die Stadt fahren und ihre Mutter um Hilfe bitten, die jeden vorgelesenen Satz mit einer spitzen Bemerkung würzen würde?
2
Die Frau die lächelnd das Podium betrat, ihr Jackett zurechtrückte und charmant ins Publikum lächelte, sah aus wie ein Mensch. Sie räusperte sich wie ein Mensch. „Willkommen meine Damen und Herren. Ich komme heute mit einem besonderen Thema zu Ihnen. Wie Sie wissen, kann statistisch gesehen jeder siebte Mensch in Deutschland schlecht lesen und schreiben. Wir bezeichnen diese Menschen oft als Analphabeten. Es handelt sich dabei um Leute, die aus den verschiedensten Gründen innerhalb unseres Schulsystems nicht gelernt haben, ausreichend gut zu lesen und zu schreiben, um einen Text inhaltlich zu erfassen. Wenige Betroffene gehen in Alphabetisierungskurse, die ihnen in Abendkursen über Jahre hinweg das geben, was unsere Schulen versäumt haben.“ Die Frau machte eine Kunstpause und ließ ihren Blick schweifen, bevor sie die Folie ihrer Powerpoint-präsentation wechselte und fortfuhr. „Was, wenn das einfacher wäre? Was, wenn es einen Ort gäbe, an dem jeder Mensch intensiv in seinem ganz individuellen Stil gefördert werden könnte?“ Die Frau lächelte und wechselte abermals die Folie, so dass ein Logo erschien. „Wir haben eine virtuelle Lernumgebung entwickelt, die genau das kann. Lernwelten passt sich dynamisch an den Lerner an und fördert ihn genau so, wie er es braucht. Wir glauben, dass wir bei einem Zeitkontingent einer vierzig Stunden Woche einen sogenannten Analphabeten innerhalb eines Monats zu einem sicheren Leser und Schreiber machen können, der von seinem Alltag nicht mehr durch das geschriebene Wort vor Probleme gestellt wird.“
Die Anzugträger im Publikum murmelten miteinander und diskutierten. Erst als die Rednerin Lumi erklärte wie Lernwelten funktionierte, wurde es wieder ruhiger. Sie merkte, dass sie die Zuhörer am Harken hatte. Die Fördergelder waren ihr so gut wie sicher.
Schreib mir deine Meinung
Bis dann
Gedankenpilze