Lesen lernen, Deutsch Nachhilfe, Grundschule

Moin Leser

Das deutsche Bildungssystem ist nicht fair – das wissen wir glaube ich alle. Im letzten halben Jahr habe ich angefangen, Deutschnachhilfe für Schüler*Innen anzubieten, die das staatlich gefördert bekommen. Und habe mich sehr erschrocken. Meiner Ansicht nach geraten „meine typischen Nachhilfekinder“ deshalb in ein sehr unangenehmes Feld, weil sie zweisprachig aufwachsen, wobei ihre Erstsprache nicht deutsch ist und die Eltern selbst kein oder wenig deutsch können und/oder selbst nur schlecht lesen/schreiben können. Kinder die zweisprachig aufwachsen, werden in Deutschland genauso bewertet in Bezug auf Deutsch wie einsprachig aufwachsende Kinder, obwohl sie doppelt so viel lernen müssen, um in Deutsch auf dem gleichen Stand zu sein (Wortschatz, Grammatik). Gleichzeitig starten „meine typischen Nachhilfekinder“ ohne durch das Elternhaus herbeigeführte Vorbildung in die erste Klasse. Besonders wenn dann noch eine Lese-Rechtschreib-Schwäche hinzukommt, sind die Kinder am Ende der ersten Klasse bereits in einer beschissenen Situation und fast oder ganz abgehängt, was den Stoff im Schulklassenverband angeht. Und dann bekommen sie Nachhilfe – wobei Nachhilfelehrer keine ausgebildeten Fachkräfte sind, die eigentlich für diese Fälle nötig wären.

Lange Rede kurzer Sinn:

In den letzten Monaten habe ich mich damit auseinandergesetzt, wie Kinder lesen lernen und wie man die einzelnen Schritte fördern kann. Und ich hoffe dass ich mit diesem Beitrag anderen Nachhilfelehrkräften helfen kann.

Natürlich machen wir auch Hausaufgaben u.ä., aber die nehmen für gewöhnlich maximal die Hälfte der bewilligten Zeit ein. Zudem habe ich gelernt: Geh niemals ohne Material in der Hinterhand in eine Nachhilfestunde. Lass Kinder keine Texte lesen, die du selbst nicht vollständig (!) vorher gelesen hast und gib ihnen keine Matheaufgaben, die du selbst nicht vorher durchgerechnet hast und zu denen du idealerweise eine selbstgeschriebene Musterlösung mitbringst.

Ich dachte mir, das Material, was sich bei mir angesammelt hat, könnte auch anderen Nachhilfelehrkräften nützen (die wie ich unvorbereitet und überrascht in dieses Deutsch-Nachhilfe-Feld stolpern). Die Fotos davon sind weiter unten in diesem Beitrag und können gerne verwendet werden.

Was habe ich über das Lesenlernen gelernt?

In der ersten Klasse erfolgt die Alphabetisierung, also die Verknüpfung von Buchstabe und Laut. Das wird oft mit Bildern gemacht, die ein Objekt zeigen, dessen Anfangsbuchstabe dem laut entspricht – also z.B. „Z“ mit einem Zaun usw. Es ist gut am Anfang einer Nachhilfe zu testen welche Buchstaben das Kind kann und bei welchen Probleme auftauchen. Man kann sich die schwierigen Buchstaben (meiner Erfahrung nach oft t,f,g,k,d,b,F) merken und in den folgenden Stunden immer wieder üben.

Dann erfolgt das Silbenlesen. Und dieser Schritt – Alphabetisierung -> Silbenlesen – ist bei „meinen“ Nachhilfekindern oft der erste von möglichen Punkten, die nicht oder unvollständig vollzogen wurden. Es ist meiner Erfahrung nach gut, wenn man zuerst offene Silben lesen übt, falls das Silbenlesen übungsbedürftig ist. Offene Silben bestehen aus 1 Konsonanten und 1 Vokal. Konsonanten, die man langgezogen sprechen kann, eignen sich für den Anfang am Besten. Also kann man Silbenteppiche mit „ma, me, mi, mo, mu / la, le …“ verwenden. ‚Einfache‘ Konsonanten sind z.B. m,n,l,w,s,r. Einem Nachhilfekind fiel das sehr schwer und nach langem Tüfteln kam die Deutschlehrerin des Kindes darauf, erstmal nur den gleichbleibenden Vokal pro Reihe zu nehmen – also dem Kind wird gesagt, dass jetzt nur Silben mit „e“ kommen und dann muss es eine Reihe Silben lesen, die ungefähr so lautet: „me, ne, le, we, re, (te, pe, ke …)“. Es hat sich auch als vorteilhaft herausgestellt, wenn das Kind erst eine Reihe mit dem betreffenden Vokal schreibt und bei jedem Buchstaben den Laut dazu sagt. Wenn ein Kind Probleme mit dem Silbenlesen hat, kann es sein, dass die ‚Graphem-Phonem-Korrespondenz‘, die es bei der Alphabetisierung vorher hätte gut lernen sollen, zu schwach ist. Also die Verknüpfung von Buchstabe und Laut. Das versuche ich damit zu stärken.

Die nächsten Schwierigkeitsstufen können sein – das Einbeziehen von ä, ö, ü, ie, ei, und au bzw von „sch“ oder einfache geschlossene Silben (1 Konsonant, 1 Vokal, 1 Konsant). Gefolgt von schwierigen Silben die mit mehreren Konsonanten beginnen.

Auf jeden Fall Geduld haben, bei dem Tempo des Kindes bleiben und kleinschrittig loben. Was uns einfach erscheint, ist für das Kind eine riesige Aufgabe.

Bei einem anderen Kind klappt das Lesen von einfachen Silben (offen und geschlossen) schon ganz gut, aber das Lesen von mehrsilbigen Wörtern (Wolke, Hose usw) klappt noch nicht, weil das Kind dazu neigt nach den ersten paar entzifferten Buchstaben drauf los zu raten. Außerdem fehlen dem Kind noch besondere Laute wie „ch“ „sch“ „ß“ Umlaute usw.

Auf jeden Fall ist Lesenlernen ein langwieriger (!) und komplexer Prozess. Ich denke, es ist gut, zu testen, wo das Kind gerade steht und da mit den Übungen anzusetzen. Jedes Kind ist anders und am Anfang muss ich immer erstmal herumprobieren – was funktioniert und was nicht?

Wenn das Kind schon lesen und schreiben kann, kann man es einen Lückentext über sich und seine Interessen u.ä. schreiben lassen, um zu sehen, welche Probleme bei der Texterstellung auftreten. Dann gibt es oft Probleme mit der Grammatik und der Größe des Wortschatzes. Zusätzlich kann man so herausfinden, welche Themen das Kind interessieren und womit man es vielleicht „kriegt“. Einmal hatte ich ein Kind, das großen Übungsbedarf beim Lesen hatte und komplexe Sätze oder Textabschnitte inhaltlich nicht verstanden hat (ich habe immer wieder konkrete Fragen gestellt zu dem, was das Kind gerade vorlesen sollte) – das Kind interessierte sich null für ausgedachte Geschichten, aber für Naturwissenschaften. Als ich ein Sachbuch mitgebracht habe, klappten das Lesen und die Konzentration und das Sprechen über das Gelesene schon deutlich besser. Ich denke es macht auch Sinn, dass die Lehrkraft und das Kind abwechselnd Textabschnitte lesen. Auch durch zuhören und mitlesen lernen Kinder. Aber man sollte häufig genug konkrete Textfragen stellen, um sicher zu gehen, dass das Kind nicht gedanklich abschaltet. Dabei habe ich auch festgestellt, dass erschreckend viele Kinderbücher zu komplexe Sätze verwenden oder zu schwierige Wörter, als dass man damit in der Nachhilfe gut vorankommt. Wenn ein Kind Inhalte von komplexen Sätzen oder Textabschnitten nicht begreift, liegt das oft daran, dass das Lesen noch so schwer ist, dass sich das Gehirn nicht gleichzeitig den Inhalt neben dem Entziffern merken kann. Dann: Einfache Sätze und ganz viel üben. Schön ist es auch, wenn es eindeutige Bilder zum Text gibt.

Für Stufen jenseits der zweiten Klasse (in der mein Hauptübungsfeld [Buchstaben -> Silben -> Wörter] sind), habe ich viel vorhandenes Material in Förderheften gefunden und daher wenig selbst erstellt. Besuche in der Stadtbibliothek für Kinderbücher oder Romane in einfacher Sprache oder Förderhefte haben mir oft geholfen.

Ich habe das Gefühl, dass es gut ist, auch leichtere Aufgaben für zwischendurch dabei zu haben. Zum Beispiel für Zweitklässler*Innen: Bilder in Büchern, die die Kinder beschreiben können und bei denen sie mit ihrer Fantasie erzählen können, was dort passiert. Dann sage ich nie ob das „richtig“ ist oder nicht, denn es soll Spaß machen. Das kann auch gut für den Wortschatz sein, der bei den Kindern, die ich kennengelernt habe, erstaunlich klein ist – dass es verschiedene Vogelarten gibt (Amsel, Möwe, Krähe) ist vielen von „meinen“ Nachhilfekindern nicht klar – das selbe mit Biene/Hummel/Wespe … oder Wörter, die im Alltag nicht vorkommen (Rasenmäher, Mammut, Ritter, Wildschwein, Eichhörnchen, Pirat usw) tauchen im Kinderwortschatz noch nicht auf, obwohl die Schulaufgaben oft davon ausgehen.

Ich hoffe, dass dieser Beitrag irgendjemandem weiterhilft.

Wie immer: Gerne kommentieren!

Bis dann

Gedankenpilze

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s