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Ich bekam nur am Rande mit, wie Ylva mir durch Zauberei die Nase richtete. Theresia mir beim Duschen, Umziehen und Zähneputzen half. Mich ins Bett steckte, wo Liam mich im Arm hielt und darauf achtete, dass ich wachblieb – weil Ylva es so verlangt hatte. Nach einigen Stunden war es mir endlich erlaubt zu schlafen.
Irgendwann erwachte ich aus meinen Albträumen und starrte vor mich hin. Mein Kopf puslierte immer noch schmerzend und ich fühlte mich elend – hinzu kam der psychische Schock und hielt mich fest im Griff. Ich schuldete Leviathan nun siebenundsiebzig Jahre meines Lebens und ich würde meine Eltern und Jesse mindestens die nächsten zwölfeinhalb Jahre lang nicht zu Gesicht bekommen, weil ich hier sein würde. Weil ich gegen meinen Willen zu einer Hexe ausgebildet wurde. Mein Brustkorb war so zugeschnürt, dass darin kaum noch Platz für meinen Atem und mein Herz war. Liam saß neben mir und hatte mir hilflos einen Arm um die Schulter gelegt. Er schien nicht zu wissen, wie er mich trösten sollte oder warum es mich so bestürzte, hier bleiben zu müssen.
„Bist du traurig?“, piepste Lumi. Das fragte sie heute Nacht nicht zum ersten Mal. Wenn dieses Irrlicht nicht so vergesslich wäre, könnte es viel nützlicher sein. Andererseits würde es sich dann vielleicht eingesperrt fühlen. Vielleicht sollte ich auch ein schlechteres Gedächtnis bekommen. Vielleicht wäre meine Freiheit mir dann egal.
Ich legte mich wieder hin und schob Liam von mir, versank in unruhigen Schlaf, in dem ich die Welt vergessen wollte.
Als ich das nächste mal erwachte, waren die Kopfschmerzen abgeklungen und mein ganzer Körper fühlte sich steif an vom vielen liegen. Stöhnend setzte ich mich auf und meine Gedanken kreisten wieder um die Wette, die ich verloren hatte.
Ich konnte meine Niederlage einfach nicht akzeptieren. Es war so unfair. Alles war unfair! Nicht nur der Ausgang des Turniers, sondern überhaupt, dass ein größenwahnsinniger, grausamer Hexenmeister beschlossen hatte, mich in seine Reihen einzugliedern. Ich hatte versucht nach seinen Regeln zu spielen, um der Falle zu entkommen. Mein Herzblut, meine Zeit und meine Hoffnungen hatte ich in dieses eine Ziel investiert. Es konnte doch nicht sein, dass alles umsonst gewesen war.
Und doch… Die nächsten Wochen verbrachte ich wie in Trance. Mein Körper heilte, doch mein Kampfgeist war gebrochen. Ich weigerte mich zum Unterricht zu erscheinen und niemand zwang mich dazu.
Zu behaupten in diesen Wochen hätte ich mich im Selbstmitleid gesuhlt, wäre völlig untertrieben. Ich badete darin mit jeder Faser meines Körpers und meiner Gedanken. Ertrank darin. Keiner meiner Freunde konnte mich aufheitern, denn ich wollte nicht aufgeheitert werden.
Körperlich geheilt lag ich in meinem Bett und bedauerte mein Schicksal. Ein Gedanke hatte sich in mir festgefressen: Wenn Leviathan nicht wäre, hätte ich das ganze Problem nicht. Wenn Leviathan nicht wäre …
Es machte Klick. Eine Flamme entzündete sich in meinem Herzen und gab mir meine Kraft und meinen Mut zurück. Wacklig und blass zwar, aber ich spürte sie. Ich atmete tief durch. Hier herumzusitzen und mich zu ergeben, kam nicht in Frage! Schluss jetzt.
Ich setzte mich auf. Stattdessen würde ich etwas gegen diesen schrecklichen Mann unternehmen. Damit befreite ich nicht nur mich selbst, sondern auch die Engel und alle Mädchen, die sonst nach mir kommen würden. Der Größenwahnsinn meines Vorhabens erschreckte mich selbst. Und auf der anderen Seite wusste ich, dass es der richtige Weg war. Ich brauchte nur noch einen Plan.
Von meiner neuen Vision aufgeladen, sprang ich auf die Füße, wobei irgendwas in meinen steifen Schultern knackte, und öffnete meine Zimmertür.
„Was ist denn jetzt los? Wo gehst du hin?“ Der arme Liam, der bis dato gelesen hatte, klang völlig verwirrt.
„In die Bibliothek!“
Irgendetwas erwiderte er darauf, doch ich konnte es nicht mehr verstehen, da ich bereits auf dem Weg die Wendeltreppe hinunter war. Etwas fühlte sich verkehrt an. Gut, ich war vom vielen Liegen ziemlich steif, aber… Ein Blick an mir herunter ließ mich innehalten. Ich trug immer noch ein dünnes, schwarzes Nachthemd und war barfuß. Also kehrte ich um, kleidete mich in eins der groben Baumwollkleider, in Strümpfe und Stiefel und eilte wieder in Richtung Bibliothek.
Ich brauchte einen bestimmten Zauber und in der Bibliothek fand ich wahrscheinlich ein Buch, in dem es eine genaue Anleitung gab.
Es war nicht so einfach wie ich gedacht hatte, aber immerhin fand ich etwas Ähnliches, wie das was ich im Sinn gehabt hatte, und hoffte, dass es ausreichen würde. Liam folgte mir und stellte Fragen, doch ich ignorierte ihn. Wenn ich in einer Sache ganz sicher war, dann der, dass mein Begleiter sich gegen mich stellen würde, statt mir zu helfen dieser besonderen Schlange den Kopf abzuschlagen. Er äußerte sich nie kritisch über Leviathan oder seinen Vater oder dieses verrückte Gruselschloss.
Bei Sonnenaufgang lag ich neben Liam im Bett, tat so als ob ich schlief und wartete ungeduldig darauf, dass seine Atemzüge so gleichmäßig und langsam wurden, wie es für Schlafende typisch war.
Er musste in einen tiefen Schlaf fallen. Im Kopf zählte ich seine Atemzüge mit. Als ich bei tausend ankam, konnte ich mich nicht länger gedulden. Ich richtete mich langsam zu einer sitzenden Position auf und horchte angespannt auf jeden Atemzug meines Begleiters. Auf diese Art und Weise dauerte es ewig sich fortzubewegen.
Ich versuchte über ihn hinweg zu steigen, was wegen seiner großen Flügel gar nicht so einfach war. Ganz zu schweigen von der Matratze, die sich unter meinem aufgestützten Knie und meiner Hand bog.
Ich war zur Hälfte über ihn hinweg geklettert. Die Zehen meines linken Fußes berührten bereits den kalten Steinboden. Da setzte sein Atem für einen Moment aus und ich erstarrte. Doch zum Glück erwachte er nicht. Dafür schlang er einen Arm um meine Taille und zog mich an sich.
Es war wirklich schwer mein Gewicht zu halten, damit er nicht davon aufwachte, dass ich auf ihn drauf fiel. Seit wann war er denn so auf Kuschelkurs? Ich ärgerte mich weniger über ihn. Eigentlich galt mein Ärger meinem eigenen Körper, der den Geruch und die Wärme sowie die Nähe im Allgemeinen sehr zu schätzen wusste. Mein Gehirn feuerte Glückshormone, als hätte ich einen ganzen Karton voll Schokolade gegessen. Nur dass ich mich nicht vollgefressen fühlte, sondern eher merkwürdig luftig. Das war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Hormone!
Behutsam griff ich nach seinem Handgelenk und zog es ganz langsam von mir herunter. Gott sei Dank hatte er einen halbwegs tiefen Schlaf, wenn er erst einmal schlief. In Zeitlupe legte ich seinen Arm wieder ab, stemmte mich Zentimeter für Zentimeter nach oben und verlagerte mein Gewicht auf den Fuß am Boden. Langsam zog ich meinen rechten Arm und mein rechtes Bein von der Matratze und hob sie über Liam hinweg. Er schlief weiter.
Endlich stand ich im Raum. Nun schlich ich um Liams halb eingeklappte Flügel herum zum Kleiderschrank. Leise öffnete ich die Tür und zog ein Kleidungsstück heraus. Die Anstrengung Liam nicht zu wecken, trieb mir allmählich den Schweiß auf die Stirn. Jede Bewegung musste kontrolliert und langsam ausgeführt werden, um nur ja keinen Lärm zu machen.
Endlich hatte ich ein Kleidungsstück und schloss den Schrank. Dann kniete ich mich auf den eisigen Boden, nahm ein Kreidestück und begann einen Zauber auf das Kleid zu zeichnen. Da ich es aus dem Kopf machen musste und noch nie dafür geübt hatte, ging ich mit größter Sorgfalt vor. Schließlich war das Symbol fertig. Kritisch beäugte ich jeden Strich. Tatsächlich schien alles seine Richtigkeit zu haben. Zum Glück schlief Liam noch immer. Denn jetzt kam der heikle Teil.
In Gedanken griff ich nach den Symbolen und nach Liams dunkler Chaosenergie. Per Gedankenbefehl aktivierte ich den Zauber und spürte das Fließen der Magie. Liam regte sich nicht und der Zauber leuchtete in einem sanften Goldton auf, bevor er erlosch. Selbst das weckte meinen Begleiter nicht auf. Meine Kreidestriche waren nun ein Teil des Kleides geworden – weiße Linien auf schwarzem Grund. Ich streifte es über und sah an mir herunter. Nichts geschah. Das verunsicherte mich jetzt doch. Hatte ich es vermasselt? Egal. Vielleicht würde der Zauber trotzdem wirken.
Mucksmäuschenstill öffnete ich die Zimmertür, schob mich hinaus und schloss sie wieder. Dann lief ich eilig die Treppe hinab und bereute schon jetzt weder Socken noch Schuhe mitgenommen zu haben. Jedes bisschen Wärme wurde von meinen Füßen in den Stein abgesaugt. Aber nochmal zurückzugehen, traute ich mich auch nicht, aus Angst davor Liam zu wecken.
Die Frage war nun, welchen Eingang ich benutzen sollte. Der im Beschwörungsraum war am nächsten dran, aber ich hatte ihn noch nie von außen geöffnet. Für einen Versuch war ich mir nicht zu Schade.
Auf dem Weg dorthin kam ich an einem Raum vorbei, von dem wütendes Gebrüll ausging. Ich schlich weiter vorwärts und riskierte einen Blick. Wolf stand vor einem Mann, den ich nicht kannte, aber für einen Lehrer hielt. Er war groß und breitschultrig und hatte einen wilden Blick. „Du bist eine Schande!“, brüllte der Fremde meinen Freund an. „Seit fünf Jahren unterrichte ich dich nun schon und noch immer bekommst du es nicht hin, deine Gestalt menschlich zu halten! Du wirst niemals aus diesem Schloss herauskommen und niemand wird dich jemals respektieren!“ Speicheltropfen flogen ihm aus dem Mund.
Mein Herz befahl mir, dort hineinzugehen und für Wolf Partei zu ergreifen. Er hatte es nicht verdient so heruntergeputzt zu werden. Gerade als ich mich innerlich dazu bereit machte, mein ursprüngliches Vorhaben in den Wind zu schießen, richtete Wolf sich auf und fixierte den Lehrer auf gelblichen Augen. Die Schultern zog er immer noch hoch dabei, als würde ein Teil von ihm sich wegducken wollen.
Der Lehrer holte aus und verpasste Wolf eine knallende Ohrfeige. Wolfs Mut war verloren, er hastete gescholten davon. Noch bevor ich mich zu erkennen geben konnte, noch bevor ich etwas sagen konnte, war er an mir vorbei und in der nächsten Sekunde außer Sicht verschwunden.
„Sie sind ein schrecklicher Lehrer!“, sagte ich laut und der Mann zuckte zusammen und sah sich um, sein suchender Blick glitt über mich hinweg.
Ich sollte mein Glück nicht überstrapazieren – also huschte ich davon. Voller Wut auf jemanden, der es wagte, eine so wundervolle Person wie Wolf so schrecklich zu behandeln.
Beim Beschwörungsraum angekommen ging ich zu dem Regal, das den Geheimgang verschloss. Mit einem schnellen Blick suchte ich nach der Steinkugel, doch sie war fort. Was hatte Nelio damit gemacht?
Zurück um Mechanismus.
Hoffentlich besaß es einen ähnlichen Mechanismus wie das Regal in der Bibliothek. Meine Augen glitten über alles, was sich im Regal befand. Ein schwarzes Buch mit goldenen Symbolen im Rücken war nicht dabei. Wäre ja auch zu einfach gewesen.
Also hob und zog ich an jedem einzelnen Gegenstand, angefangen von links oben probierte ich mich durch bis nach unten rechts. Alles ließ sich problemlos herausnehmen. Nichts davon öffnete die Geheimtür. Ich starrte das Möbelstück aus dunklem Holz ratlos an. Da gab es doch bestimmt einen Trick.
Ich tastete über die gemaserten Oberflächen der Seiten- und Rückwand. Nichts. Über die Regalböden, von oben und von unten. Da! Bei einem gab es auf der Unterseite eine kleine Erhebung, auf die ich nun drückte. Es klackte. Das Regal glitt auf mich zu und dann zur Seite.
Dahinter lag der Geheimgang – ebenso stockfinster wie in meiner Erinnerung. Ich begab mich hinein und versuchte das Regal hinter mir an seinen Platz zurückzuziehen. Es war gar nicht so einfach. Erst beim dritten Versuch schaffte ich es, genug Schwung aufzubringen, damit sich die Geheimtür vollständig schloss. Am Ende wurde ich von einem sanften „Klack“ belohnt.
Kurz atmete ich auf und schlich ich in die Richtung, in der das geheime Bücherzimmer lag. Zwar hätte ich ein Licht mitnehmen können, doch das hätte nicht nur bewirkt, das ich sehen konnte, sondern auch, das ich gesehen wurde. Falls jemand hier war. Und darauf konnte ich verzichten.
Eine ganze Weile tastete ich mich barfuß durch den vollkommen lichtlosen Gang. Die undurchdringliche Schwärze drückte mir auf den Brustkorb und beschleunigte meinen Puls.
Schließlich wurde es heller und ich seufzte vor Erleichterung. Wenig später betrat ich das Bücherzimmer. Bei meinem Eintreten flammten die restlichen Kerzen im gewaltigen Kronleuchter auf. Abermals war ich allein.
Nun konnte ich meine Suche beginnen. Ich suchte nach allem, was mir Aufschluss darüber gab, wie man einen Hexenmeister besiegen konnte. Nach jeder Information über Leviathan.
Stundenlang blätterte ich in Büchern und saugte jede Kleinigkeit auf, die mir auch nur im Entferntesten von Nutzen sein konnte. Irgendwann wurden meine Augenlider zu schwer. Ich würde wieder herkommen müssen, um noch mehr zu erfahren. Mit genug Wissen würde es mir gelingen einen Plan zu schmieden.
Ich stellte alle Bücher an ihren Platz zurück und schlich zurück in meine Schlafkammer, durch den Regalzugang im Beschwörungsraum. Draußen war noch lichtlose Schwärze.
Zum Glück schlief Liam seelenruhig und hatte nichts von meinem nächtlichen Ausflug bemerkt. Ich stopfte das verzauberte Kleid unter das Bett und kletterte vorsichtig zurück an meinen Platz. Meine Füße waren so ausgekühlt, dass ich keinerlei Gefühl mehr in ihnen hatte. Am liebsten hätte ich sie an Liams Beine gedrückt, aber dann wäre er bestimmt aufgewacht. Ohne dass ich es mitbekam, schlief ich ein.
Wie jeden Nachtbeginn weckte Theresia uns, ohne zu erwarten, dass ich tatsächlich aufstand und meine Kammer verließ. Sie ahnte nicht, dass ich mit meiner Selbstmitleidsphase durch war und beschlossen hatte, in die Offensive zu gehen. Am Liebsten hätte ich ihr sofort alles erzählt, aber was war mit Liam? Er durfte es nicht erfahren, sonst würde er Alarm schlagen. Also ging ich über ihre Überraschung hinweg, als ich aufstand und mich fertig machte. Beschwingt verließ sie meine Kammer.
So ging ich angezogen zum Frühstück, im Schlepptau einen grummeligen Halbdämon, der mir misstrauische Blicke zuwarf.
Die anderen behandelten mich seit dem Turnier wie Luft und ich tat es ihnen gleich. Nach dem Frühstück begleitete ich sie zum Beschwörungsunterricht, was einigen überraschte Seitenblicke entlockte, bevor sie sich daran erinnerten, dass ich Luft für sie war.
Es war wie aus einem Nebel aufzutauchen – zum ersten Mal nahm ich wirklich wahr, in was für einer schlechten Verfassung Isabella war und wie auch sie gemieden wurde. Ihre wenigen roten Haare waren verknotet und strähnig, ihre Kleidung so gewöhnlich wie unsere – nur vielleicht etwas dreckiger und zerknitterter. Ihre stumpfen, grünen Augen starrten aus einem blassen, abgemagerten Gesicht ins Leere.
Menowin hatte nur ein Stirnrunzeln für mich übrig. Ich hatte ein neues Ziel und ich wollte alles wissen und alles lernen, was mir bei dessen Erreichen helfen konnte. Nach dem Mittagessen und Kampfsport, bei dem Nelio mich freundlich höhnisch begrüßte – „Sie sind aus ihrem Selbstmitleidsloch zurückgekehrt?“ – ging ich in die Bibliothek.
Mein Begleiter richtete das Wort an mich, sobald wir allein waren. „Was hast du vor?“
„Nichts?“
„Was muss ich tun, damit du es mir verrätst?“
Ich lächelte nur scheinheilig und griff nach einem Buch – Basis der Kampfzauber.
Liam war nicht zufrieden, doch er hatte gemerkt, dass er keine Antwort von mir bekommen würde. Also zückte er seinen aktuellen Thriller und verbarg sich dahinter.
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Ein Kommentar zu „Fünfundzwanzigstes Kapitel: Geheime Pläne“