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Tipp: Finde alle Kapitel über das Schlagwort „Nora’s Halloween“ – x
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Die Nacht bestand aus Beschwörung und Kampfsport. Anschließend ging ich mit Theresia und Liam zum See – die beiden hatten sich nicht abschütteln lassen – und redete dabei ohne Punkt und Komma. Als wir das Ufer erreicht hatten, tastete ich in der Tasche meines Kleides herum, bis ich Isabellas Handy gefunden hatte. Meinen Redefluss unterbrach ich dabei nicht, denn er diente dazu, meine unerwünschten Zeugen abzulenken. Seit meiner SMS war das Telefon ausgeschaltet. Als ich es fest im Griff hatte, riss ich es aus der Tasche und schleuderte es im hohen Bogen in den See.
Theresia und Liam sahen mich verwirrt an – zumindest glaubte ich, dass Theresia verwirrt schaute, denn das war bei ihr wirklich schwer zu sagen.
„Was war das?“, fragte Theresia.
„Nur eine schlechte Erinnerung“, sagte ich und hielt den Blick von meinen Freunden abgewandt. Ich wusste nicht, was sie tun würden, wenn sie das mit der Nachricht an meine Eltern erfuhren. „Lasst uns zurückgehen und einen Ort suchen, wo wir für Giftmischen lernen können.“
Liam sah mich schon wieder so misstrauisch an. Theresia starrte mit leeren Augenhöhlen in meine Richtung.
Ich drehte mich um und ging zurück zum Schloss. Zum Glück folgten die beiden mir nach einigem Zögern. Mit dem Handy hatte ich ein Risiko eliminiert. Niemand sollte meinen Eltern etwas antun, weil ich die Regeln brach.
Nach Theresias Nachhilfe trainierte Wolf mit mir Kampfsport.
Er versuchte mir ein neues Ausweichmanöver beizubringen, wobei ich mich leider nicht sonderlich geschickt anstellte. Hin und wieder gab Liam ein schlecht unterdrücktes Geräusch von sich, das sich wie Gelächter anhörte. Ich blendete ihn aus, so gut es ging.
Eigentlich sollte die Bewegung nicht schwierig sein. Wir übten das Wegducken immer wieder, aber sobald Wolf auch nur eine Kleinigkeit an seinem Angriff änderte, konnte ich entweder nicht schnell genug reagieren oder bewegte mich zur falschen Seite. Das war eine sehr schmerzhafte Lektion.
Nach dieser extra Kampfsporteinheit war ich zwar am Ende meiner Kräfte, doch ich zwang mich dazu, noch ein wenig in dem Buch „Grundlagen der Beschwörung“ zu lesen.
Es ärgerte mich, dass Liam seinem neuen Vorsatz treu blieb und mich nicht aus den Augen ließ. Wie sollte ich mich mit Isabellas Notizen beschäftigen oder mit der schwarzen Steinkugel, wenn er alles mitbekam?
Irgendwann konnte ich den Buchstaben in dem Buch keinen Sinn mehr entlocken.
Mit pochenden Kopfschmerzen zwang ich mich noch zu einer kalten Dusche. Anschließend war ich zu müde, um mich darüber zu streiten, dass Liam sich gefälligst ein anderes Bett suchen sollte.
Er legte sich wie selbstverständlich neben mich. Seine sturmgrauen Augen betrachteten mein Gesicht, als suchten sie nach irgendetwas.
Ich räusperte mich, um das komische Gefühl im Hals loszuwerden und kuschelte mich tiefer in die müffelnde Decke. Dank der eiskalten Dusche steckte mir Frost in den Knochen und in jeder einzelnen Zelle. Obwohl die körperliche Nähe zu Liam mich nervös machte, war mein Körper völlig erschöpft. Wieder einmal hatte ich mich über meine Grenzen hinausgetrieben, nur um Isabella endlich besiegen zu können. Meine Lider konnte ich kaum offenhalten, doch die Kälte in mir hinderte mich daran, zu schlafen.
Wortlos streckte Liam einen Arm nach mir aus und zog mich zu sich heran. Ich war zu müde, um zu protestieren. Zumindest war das die Ausrede, die ich mir selbst erzählte.
Die Körperwärme und der herbe Geruch schlossen mich in einen Kokon, in dem ich mich viel zu wohl fühlte.
Bevor auch nur ein weiterer Gedanke in meinem überanstrengten Gehirn Platz fand, fiel ich in einen traumlosen Schlaf.
Wie jede Nacht begann auch diese viel zu früh. Schon jetzt fühlte ich mich wie ausgebrannt, doch ich musste weitermachen. Isabella bekämpfen, Freiheit erlangen.
In einem roboterhaften Trancezustand gelangte ich bis in den Speisesaal und setzte mich wie üblich zu Samara. Liam schlenderte zum Tisch mit den gemischten Wesen, zu dem er optisch tadellos passte.
Mein Blick heftete sich auf die in Milch eingeweichten Haferflocken vor mir. Gebackene Kürbisstücke sanken langsam in den Brei ein. Ich spürte weder Appetit noch Hunger.
Eine Veränderung riss mich aus der Betrachtung meines Frühstücks. Zuerst war es wie eine Luftveränderung um mich herum, bevor die Mädchen am Tisch in entsetztes Getuschel ausbrachen.
Irritiert sah ich auf und machte den Grund für die Aufregung aus.
Isabella stürmte durch den schattigen Saal auf unseren Tisch zu. Ihr Blick brannte vor Wut.
Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten. Ihre langen, geschmeidigen roten Haare waren eine Ruine der chemischen Verwüstung. Ein Großteil war ihr ausgefallen. Eine komplette Strähne hing lose heraus auf ihre Schulter und segelte in Isabellas Lauf zu Boden, wo die Strähne anklagend liegen blieb. Die verbliebenen Haare waren stumpf und glanzlos.
Meine Erzfeindin erreichte den Tisch, stemmte die Hände auf die Platte und warf mit sengenden Blicken um sich. „Wer von euch hat das getan?!“
Bedrücktes Schweigen. Auch mir steckte das Entsetzen in den Knochen. Meine Gedanken rasten zurück zu der Nacht, in der ich in Isabellas Zimmer eingebrochen war. Theresia hatte ein Pulver in Isabellas Shampooflasche gefüllt. Ich hatte keine Ahnung gehabt. Aber wenn ich gewusst hätte, was das Pulver bewirkt – hätte ich meine Freundin dann aufgehalten?
Isabella schlug mit beiden Fäusten fest auf den Tisch und brüllte. „Wer hat das getan?!“
Die Lautstärke brachte auch alle anderen Gespräche zum Verstummen. Eine noch nie da gewesene Stille senkte sich über den Speisesaal.
Natürlich antwortete niemand. Mein Herz raste und ich versuchte genauso überrumpelt und entsetzt auszusehen wie alle anderen.
Ein zorniges Zittern ließ Isabellas Körper erbeben. „Bei der Ehre meiner Familie! Ich finde heraus, wer es getan hat. Und sobald ich das weiß, bringe ich ihn um!“ Sie wandte sich ab und verließ den Saal so zornig und zielstrebig wie ein Racheengel in heiliger Mission.
Für einen Moment herrschte Stille, bevor überall Gemurmel einsetzte, wie das Summen eines sich erhebenden Bienenschwarms.
Zu meiner Linken sagte Samara verächtlich. „Die hat es gar nicht anders verdient.“
Ungläubig starrte ich das blasse Mädchen an, das wie üblich ihren grimmigen Gesichtsausdruck zur Schau trug. Die große haarige Spinne krabbelte über ihren Rücken von einer Schulter zur anderen.
Samara erwiderte meinen Blick fest. „Was? Tu nicht so, als hättest du nicht das Gleiche gedacht.“
Hatte ich tatsächlich nicht. „Ich glaube nicht, dass irgendjemand so etwas verdient.“
Sie schnaubte. „Isabella schon. Wer anderen das Leben so schwer macht, braucht sich gar nicht zu wundern, dass irgendjemand irgendwann zurückschlägt. Ich wünschte nur, ich wäre selbst auf diese Idee gekommen.“ Als wäre damit alles gesagt, widmete Samara sich wieder ihrem Frühstück und ließ mich mit meinen Gedanken allein.
Schuldgefühle nagten an mir. Auch wenn ich mich ein bisschen darüber freute – Isabella hatte versucht mich umzubringen.
Der Rest der Nacht verlief fast genauso wie die gestrige. Unterricht, Unterricht, Unterricht. Nachhilfe, Nachhilfe, Nachhilfe. Weitere Rachefeldzüge unternahmen Theresia und ich nicht, das war nicht nötig. Meine skelettierte Freundin war die ganze Nach-mitternacht so fröhlich wie noch nie. Mir jedoch graute davor, dass Isabella herausfand, wer ihre Haarpracht ruiniert hatte. Die Formulierung, dass sie den Schuldigen umbringen würde, war mit Sicherheit wörtlich gemeint.
Die folgenden Nächte gestalteten sich sehr ähnlich. Diese dreizehn-Nächte-Woche laugte mich aus. Ich brauchte dringend Urlaub, dabei gab es noch so vieles, was ich lernen musste! Ich konnte mir einfach keine Pause erlauben.
Irgendwann in der elften Nacht der Schulwoche saß ich in der Bibliothek, „Grundlagen der Beschwörung“ auf meinem Schoß und starrte ins Leere. Nach einer Weile spürte ich, dass Liam mich beobachtete.
„Warum schaust du mich so an?“
„Ich will mich bloß gut daran erinnern, wie du aussahst, bevor du zu Theresias Ebenbild wurdest.“
„Ha-ha, sehr witzig.“ Ich verdrehte die Augen.
„Mir ist schon klar, dass es dir wichtig ist, als Beste abzuschließen, um in den Käfig deiner Eltern zurückzukehren. Aber deine aktuelle Taktik ist kurzsichtig. Wie willst du das das ganze Halbjahr über durchhalten?“
„Ich will in keinen Käfig zurückkehren. Warum ist das so schwierig zu verstehen für dich?“ Ich gähnte herzhaft.
„Ich bin ein Opfer der Logik. Ich habe dir das schon mal gesagt. Mehrmals. Du wolltest so dringend von zu Hause weg, dass du aus dem Fenster geklettert bist. Und jetzt, wo du frei bist, tust du alles, um zurückzukehren.“
„Das habe ich dir doch schon erklärt. Wenn ich achtzehn bin-…“
Liam warf frustriert die Hände in die Luft und stand auf, von zu viel Energie erfüllt, um ruhig sitzen zu bleiben. „Glaubst du vielleicht dein achtzehnter Geburtstag ist wie ein Paukenschlag, der dich befreit? Du wirst auch danach noch auf deine Eltern angewiesen sein – und sie werden das ausnutzen, um dich unter Kontrolle zu halten.“
„Du kennst meine Eltern gar nicht. Immerhin kann man mit ihnen vernünftiger reden, als mit dem Meister der Finsternis. Alle hier gehorchen ihm blind, obwohl er ein gewalttätiger Tyrann ist. Hast du mal die Engel gesehen, die er in seiner Höhle eingesperrt hat? Davon bekommt man Albträume.“ Ich verstummte abrupt und bereute meine offenen Worte. Ich hatte mehr gesagt als ich wollte.
Liam sah sich nervös in der Bibliothek um, als fürchtete er, jemand würde uns belauschen. Das erinnerte mich an die Geheimgänge und ich verfluchte mich selbst. Es war nicht besonders klug, feindlich gesinnten Personen meine Meinung über den Meister der Finsternis preiszugeben. Nachher landete ich selbst in so einem Käfig.
„Vergiss, was ich gesagt habe. Ich bin nur müde, so meinte ich es nicht.“ Ich sagte das nicht nur, um Liam zu beruhigen, sondern auch etwaige Lauscher, die sich vielleicht in den Geheimgängen herumtrieben.
Ich richtete meinen Blick auf das Buch in meinem Schoß, konnte mich aber nicht konzentrieren. Vielleicht hatte Liam wenigstens in einem Punkt recht: Es war sinnlos, sich so zu verausgaben. Das würde ich kein halbes Jahr durchhalten. Also schlug ich das Buch zu und schlenderte zurück in Richtung Schlafkammer. Liam folgte mir wie ein Leibwächter.
Wenn das so weiter ging, würden mir Isabellas Notizen überhaupt nichts mehr nützen. Vielleicht musste ich mich entscheiden, ob ich Liam trauen konnte oder ihn von mir fernhalten musste.
In meiner Kammer angekommen fragte ich ihn: „Wieso hast du deine Meinung geändert? Am Anfang war es für dich eine Zumutung, auch nur zu meinem Unterricht zu erscheinen. Inzwischen klebst du aber an mir wie … Kaugummi.“
Mein Vergleich entlockte ihm ein belustigtes Schnauben. Er setzte sich auf mein Bett und zuckte mit den Schultern.
„Ich meine es ernst. Erklär es mir.“
Er seufzte und stützte sich mit den Händen auf der Matratze ab, um sich zurückzulehnen. Seine Flügelspitzen berührten die Wand hinter ihm. „Reicht es dir nicht, dass du nun Tag und Nacht zaubern kannst und nicht wehrlos bist?“
Zugegeben, das war ein cooler Effekt. Aber meine Neugier war nicht so leicht zu stillen. „Nein. Das reicht nicht.“ Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und starrte ihn so streng an, wie ich es vermochte.
An seinen sonst so ernsten Lippen zupfte ein Grinsen. „Du bist wirklich süß, wenn du versuchst, die böse Hexe rauszukehren.“
Die Versuchung einen der Zwangzauber zu benutzen, war größer als mir lieb war. Ich führte mir vor Augen, wie schlecht ich mich fühlen würde, wenn ich es tatsächlich tat. Schließlich wollte ich selbst auch nicht zu irgendetwas gezwungen werden.
„Entweder du sagst es mir, oder ich schmeiße dich raus.“
„Und wie willst du das anstellen? Mit deinen gefährlichen Kampfkünsten?“ Jetzt grinste er richtig.
Ich schnappte mir das Kopfkissen und warf es nach ihm, doch er fing es aus der Luft.
„Im Ernst jetzt – wieso hast du plötzlich angefangen Wert darauf zu legen in meiner Reichweite zu sein?“
Sein Blick heftete sich auf einen Punkt an der Wand hinter mir. „Sagen wir es einfach mal so: Ich will keine Risiken eingehen.“
„Was soll das bedeuten?“ Ich rechnete damit, dass es etwas damit zu tun hatte, dass sein Vater nicht wollte, dass ich erneut floh. Aber seine Antwort fiel anders aus.
„Ich habe gehört, wie jemand darüber geredet hat, dich aus dem Weg zu räumen. Da ich dein Begleiter bin, bist du schutzlos, sobald ich mich von dir entferne.“
Mein Herz schlug schneller. Die Härchen auf meiner Haut richteten sich prickelnd auf. „Wer hat das gesagt? Isabella?“
„Es spielt keine Rolle. Solange ich dich nicht allein lasse, kannst du dich wehren.“
Also war es Isabella gewesen. Was hatte ich ihr denn getan, dass sie mich unbedingt tot sehen wollte? „Nett von dir sich darum zu scheren, ob ich ermordet werde oder nicht. Aber wenn wir mal logisch darüber nachdenken… Wie weit dürfen wir uns denn voneinander entfernen, bevor meine Magie wirkungslos wird? Das können wir erst mal ausprobieren. Wahrscheinlich musst du dich nicht im selben Raum aufhalten wie ich.“
Er kniff die Augen zusammen und betrachtete mein Gesicht. „Wieso willst du mich unbedingt loswerden?“
Ich schluckte. „Naja – ähm, wegen Privatsphäre?“
Das schien ihn nicht zu überzeugen. Er starrte mich misstrauisch an.
Wie weit konnte ich Liam vertrauen? Meine Gedanken zogen Kreise in meinem Kopf. Was, wenn er mich an Isabella verriet? Bei jeder sich bietenden Gelegenheit betrachtete er sie, wie ein wertvolles Kunstwerk. Wie konnte ich denn sicher sein, dass er nicht heimlich in sie verliebt war und mich ihr als Opferlamm darbot? Falls das zutraf, würde ich es aber nicht durch Fragen herausbekommen. Er würde mir etwas anderes vorspielen, um mich in Sicherheit zu wiegen. Und andererseits gab es keine Hinweise darauf außer seine Blicke. Vielleicht verschwendete ich einfach nur Zeit und Energie damit, einer Verschwörungstheorie zu folgen.
Es gab immer noch den Zwangzauber, der ihn dazu zwingen konnte, ehrlich zu mir zu sein. Aber das wäre falsch. Andererseits, was wenn mein Leben davon abhing? Aber wenn Liam mich tot sehen wollte, dann würde er mich doch allein lassen, damit ich keine Magie wirken konnte. Es sei denn, das war nur eine Ausrede, um mich in falscher Sicherheit zu wiegen. Selbst wenn ich theoretisch zaubern konnte, gab es noch immer viele Möglichkeiten, mich aus dem Weg zu räumen, wie unser Ausflug im Wald bewiesen hatte. All diese Gedanken machten mir einen Knoten im Kopf. Zu viele Fragen, keine Antworten.
Erste Möglichkeit: Liam aus meiner Schlafkammer werfen.
Zweite Möglichkeit: Liam vertrauen und ihn wissen lassen, dass ich Isabella und den Beschwörungslehrer bestohlen hatte.
Dritte Möglichkeit: Liam mit Zwangzaubern belegen, um sicher zu sein, dass er mich nicht verriet.
Die erste Möglichkeit war die einfachste. Aber keine Dauerlösung.
Die zweite Möglichkeit war sehr riskant, aber auch verlockend. Ihm einfach vertrauen zu können, war mir die liebste Möglichkeit. Wie schön wäre es, wenn er mich einfach mochte und loyal war? …Aber was, wenn ich mich in ihm täuschte?
Die dritte Möglichkeit war die beste und schrecklichste zugleich. Ich konnte mir dann völlig sicher sein, dass er mir nicht gefährlich werden konnte. Aber vielleicht würde er mich deshalb hassen – und ich mich auch.
„Du bist ganz schön still. Sind dir die Argumente ausgegangen?“ Seine Augen funkelten.
Ich seufzte. Bevor ich noch richtig darüber nachgedacht hatte, tat ich das, was Jesse an meiner Stelle tun würde: Frontalangriff. Ich heftete mein Blick auf sein Gesicht, um auch noch die kleinste Regung darin wahrnehmen zu können. „Hast du vor, mich Isabella ans Messer zu liefern, damit sie mich umbringt?“
Verwirrung, Erstaunen und Empörung huschten über sein Gesicht. „Wie kommst du denn darauf?“
Ich starrte ihn wortlos an. Wartete.
„Wieso sollte ich so etwas tun? Hast du schon vergessen, wie oft ich dir das Leben gerettet habe?“ Ich dachte daran, wie er mich vor Wochen aufgefangen hatte, als ich vom Fensterbrett gefallen war. Aber das war nur geschehen, um mich zum Meister der Finsternis zu bringen. Gut, er hatte mich nicht gefressen, wenn man das als Rettung zählen konnte. Und als er dachte, ich wäre vergiftet worden, hatte er viel Energie investiert, um mich zu retten.
„Wie kommst du nur auf so etwas?“ Er schüttelte den Kopf und schien ernsthaft verärgert zu sein.
Ich räusperte mich. „Aber wenn ich jetzt etwas getan hätte, was verboten wäre, würdest du dann mein Geheimnis bewahren oder es jemandem erzählen?“
Seine Empörung wandelte sich wieder in Misstrauen. „Was hast du denn getan?“
Ich antwortete nicht.
„Hast du jemanden getötet?“
Ich zuckte mit den Schultern.
Er stöhnte und barg das Gesicht in den Händen. „Wen hast du umgebracht?“ Da ich nicht antwortete, nahm er die Hände vom Gesicht und sah mich streng an. „Wen? Warum? Wie?“
Interessant, dass er mir das so ohne weiteres zutraute. „Vergiss es einfach“, murmelte ich.
„Mit Sicherheit nicht! Du kannst so etwas nicht andeuten und dann erwarten, dass ich mich mit Bruchstücken zufriedengebe.“
„Du bist mein Begleiter. Es ist nicht nötig dir alles zu erzählen.“ Das klang unbeabsichtigt fies.
Liam sah aus, als hätte ich ihn kräftig geohrfeigt. Wahrscheinlich wäre ein Ehrlichkeits-Zwangzauber doch die bessere Alternative gewesen.
Sofort wollte ich mich entschuldigen, doch mir fiel nichts ein. Nichts, dass ich zu sagen bereit war. Die Nähe zwischen uns machte mir Angst. Sie sollte nicht sein. „Würde es dir etwas ausmachen, den Raum wenigstens so lange zu verlassen, bis ich mich umgezogen habe?“
„Dabei bin ich ja nur dein Begleiter. Glaubst du, die anderen schicken ihre Begleiter auch weg, weil sie sich nicht vor ihnen umziehen möchten?“ Er funkelte mich herausfordernd an und verschränkte die sehnigen Arme vor der Brust.
„Wenn du eine Riesenspinne wärst, hätte ich vermutlich weniger Probleme damit. Du wirkst einfach zu menschlich.“ Schon wieder klangen meine Worte unbeabsichtigt gemein. Er wirkte menschlich? Immerhin war er zur Hälfte einer.
Er erhob sich von meinem Bett und quetschte sich an mir vorbei, um vor die Tür zu gehen. Sobald sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sanken meine Schultern herab. Vielleicht sollte ich ihn einfach da draußen lassen. Alles war einfacher, wenn ich nicht alles mit ihm abstimmen musste. Eine Vorstellung davon, wie er auf der obersten Treppenstufe einer kalten Wendeltreppe saß schob sich in meinen Kopf. Das wäre nicht besonders nett von mir. Allmählich wünschte ich, bei der Wahl meines Begleiters etwas klüger gewesen zu sein. Ich hätte nicht nur danach entscheiden dürfen, wer die meiste Chaosenergie besaß. Als ich mein Nachthemd anhatte, blickte ich zu dem Schrank, in dem die Notizen lagerten. Aber es war nach wie vor zu riskant, dass Liam etwas mitbekam, solange ich nicht wusste, auf wessen Seite er stand. Also ließ ich ihn wieder herein. Er sah noch immer etwas verärgert aus, was ich einfach ignorierte. Ich kroch ins Bett und zog mir die kratzige Bettdecke bis zum Kinn hoch. Was für ein Schlamassel. Ich hätte gar nicht erst davon anfangen dürfen.
Einen Moment lang stand mitten im Raum und starrte böse auf mich herab, als wollte er einen neuen Streit beginnen.
Schließlich legte er sich doch noch neben mich, ohne etwas zu sagen. Aber der Ärger umgab ihn wie eine unsichtbare, dunkle Wolke. Trotz seiner Laune beruhigte sein Geruch mich, genau wie das Wissen, dass er da war. So jemand konnte mich doch gar nicht hintergehen. Oder?
Die Nächte vergingen. Langsam holte ich im Unterricht auf – was ich der Hilfe von Theresia, Wolf und der Bibliothek zuschrieb. Zwischen Liam und mir herrschte seit gestern eine emotionale Distanz. Ich wusste nicht, was ich dagegen tun sollte. Eine fiese, kleine Stimme in meinen Kopf flüsterte mir sogar zu, dass es besser so wäre.
Immer wieder stand ich wieder vor demselben Problem. Eigentlich würde ich gerne Isabellas Notizen lesen und auswendig lernen. Eigentlich wollte ich die schwarze Steinkugel erforschen. Aber wie würde Liam reagieren?
Er lag ausgestreckt auf meinem Bett und starrte durchs Fenster nach draußen. Vielleicht sollte ich doch Zwangzauber benutzen. Immerhin hatte ich doch gewollt, dass ich mein Ziel – als Beste abzuschließen – erreichte, ohne dass Liam mich ablenkte. Und jetzt verhinderte er, dass ich alle Mittel nutzen konnte, die mir zur Verfügung standen. Aber ich zögerte. Nicht er hinderte mich. Ich hinderte mich selbst. Es war verwerflich jemandem einen Zwang aufzuerlegen. Gab es etwas Wertvolleres als den freien Willen? Freie Entscheidungen? Ich seufzte und hätte mir am liebsten alle Haare ausgerissen vor Verzweiflung. Immer der gleiche Gedankenzirkel.
Mein Begleiter bemerkte, wie ich ihn anstarrte und richtete sich auf, nahm einen Schneidersitz ein. „Gewissensbisse?“ Seine grauen Augen bohrten sich provokant in meine. Schließlich seufzte er und sagte in etwas weicherem Tonfall: „Sag mir doch einfach, wen du umgebracht hast und wieso.“
Ich barg das Gesicht in den Händen. Wie war er überhaupt darauf gekommen, dass das mein Geheimnis war? „Ich habe einfach das Gefühl, dass ich dir nicht vertrauen kann.“ Oh. Hatte ich das gerade wirklich ausgesprochen?
Das Bett quietschte. Ein warmer Griff um meine Handgelenke. Liam zog mir die Hände vom Gesicht. Er saß vor mir und sah mich eindringlich an. Ich liebte den Anblick dieser tiefsinnigen grauen Augen. Ähm – Erde an Hormone! Hier gab es ernsthafte Probleme zu lösen.
„Das kannst du aber. Ich würde dir nie absichtlich schaden.“ Seine Stimme war so weich. So vertrauenserweckend. „Erzähl es mir einfach. Dann wirst du dich besser fühlen.“ Sein Blick senkte sich auf meine Lippen.
Bildete ich mir diese Anziehung zwischen uns nur ein?
Er ließ meine Handgelenke los, sah mir fest in die Augen und befahl mit deutlich härterer Stimme: „Also, sag schon.“
Mein Mund formte Worte ohne mein Zutun. „Ich habe Isabella bestohlen.“
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