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Jemand rüttelte mich wach. Theresia. Wie immer mit ihrem brennenden Kerzenleuchter in der Hand. „Heute erwartet dich ‚Logik und Kreatives‘! Der Lehrer ist völlig wahnwitzig. Überleg dir alles zwei mal was du tun willst, bevor du es tust – besser noch drei mal.“
Was sie sagte ergab keinen Sinn. „Logik und Kreatives?“
„Dein Fach für heute, das ausnahmsweise die ganze Nacht in Anspruch nimmt. Hast du den Stundenplan, den ich dir beschafft habe, nicht studiert?“
Naja, gelesen hatte ich ihn schon. Aber auswendig gelernt nicht. Stöhnend zog ich mir die müffelnde Bettdecke über den Kopf.
Ich war viel zu müde, um schon aufzustehen. Theresia riss die Decke von mir herunter und schleuderte sie zu Boden. „Beweg dich gefälligst!“ Sie machte kehrt und eilte die steinerne Wendeltreppe hinunter.
Ich blickte zu Lumi, die in ihrem Honigglas auf meinem Schreibtisch saß und mich schweigend beobachtete.
„Alles in Ordnung bei dir?“, fragte ich.
„Ja“, piepste das Irrlicht. „Hast du Honig?“
Ich gab dem Irrlicht einen Löffel voll, ehe ich mich anzog – was dank des Lichts, das von Lumi ausging, nun deutlich unbeschwerter war, auch wenn die nächtliche Herbstkälte mich zum Zittern brachte. Ich musste dringend den Fensterscheibenzauber aktivieren und einen Ersatz für eine Heizung finden. Anschließend machte ich mich fröstelnd auf den Weg zum Frühstück.
Den angeblich so verrückten Lehrer lernte ich wenig später kennen. Sein Raum war gemütlich eingerichtet in Rot- und Goldtönen. In der Mitte stand ein großer Tisch auf dem Kuchen und Tee bereitstanden. Ein Mann, den ich auf ungefähr fünfundzwanzig Jahre schätzte, empfing uns. Er trug ein enganliegendes Oberteil und gut sitzende Stoffhosen. „Willkommen! Wie schön euch alle kennen zu lernen! Wir werden eine ganz wunderbare Zeit zusammen haben. Los, setzt euch! Um den Geist etwas anzuregen, habe ich Kuchen und Tee für euch gemacht.“
Das verwirrte mich nicht als einzige. Auch die anderen tauschten unsichere Blicke aus. Dennoch setzte sich jeder an den Tisch.
„Nur zu“, ermunterte uns der Mann. „Nehmt euch etwas.“ Er strahlte uns an. „Mein Name ist Arcanos. Und meine Aufgabe ist es, euren Geist zu schulen. Eure Gedanken sollen frei und flüssig in jede erdenkliche Richtung abbiegen können. Denn bei einer Hexe kommt es nicht nur darauf an, wie stark ihr Begleiter ist oder wie gut sie ihre Zauber beherrscht. Im Kampf müsst ihr erfinderisch sein und eure Gegner überraschen! Das wird letztendlich über Sieg oder Niederlage entscheiden.“
Während er sprach, griff ich nach einem Stück Kuchen. Heller Teig mit Kirschen darin und obendrauf Puderzucker. Er schmeckte genauso lecker wie er aussah. Solange er weiterhin so freundlich war und uns Kuchen servierte, hatte er das Zeug dazu, mein Lieblingslehrer zu werden.
Er klatschte wieder fröhlich in die Hände und wirkte so aufgeregt, als stünde ihm eine großartige Überraschung bevor. „Glaubt, mir meine Lieben! Wir werden eine ganz besondere Zeit zusammen haben.“
Aus einem Regal holte er eine große Kiste. Aus ihr förderte er verschiedene Gedankenspiele und gab jeder Schülerin ein anderes. Ich kannte solche Objekte von Zuhause. Meine Eltern hatten mir solche Dinge geschenkt in der Hoffnung, dass ich dadurch klüger wurde.
Meine Mitschülerinnen sahen hingegen aus, als wüssten sie nicht, was sie da in den Händen hielten. Snake-Cubes, 3D-Würfel und Knobelbox-Metallpuzzle waren ihnen offenbar fremd.
Dem Lehrer fielen die verwirrten Blicke ebenfalls auf. „Das sind Rätselspiele. Ein unschuldiger, kleiner Zeitvertreib, neben dem ihr essen und trinken könnt. Schließlich will ich den Tag über nicht umsonst in der Küche gestanden haben.“ Er zwinkerte.
Leises Murmeln setzte ein. Meine Mitschülerinnen begannen zu beratschlagen.
Ich sah ihnen dabei zu, wie sie vergebens versuchten, die unterschiedlich langen Holzbauteile mit Gummischnur in einen Würfel zu verwandeln oder gebogene Metallstücke auseinander zu bekommen. Mein eigenes Rätsel fiel mir nicht schwer, denn ich hatte es letztes Jahr zu Weihnachten bekommen und seitdem bereits einige Male lösen müssen. Dafür blieb mir mehr Zeit zum Essen.
Nach einer gefühlten Stunde beendete Arcanos das Rätselraten. Er wies eines der Mädchen an, die Rätsel einzusammeln und zurück in die Kiste zu räumen. Zu uns sagte er: „Zu meiner großen Freude hat nun endlich jede von euch von den Speisen oder Getränken gekostet.“ Er grinste uns breit an. „Sie waren vergiftet.“
Mit lautem Scheppern fiel die Rätselkiste zu Boden. Entsetzte Aufschreie ertönten. Ich konnte nur da sitzen und den Mann anstarren. Die süßen Reste in meinem Mund schmeckten mit einem mal wie verdorben. Mir wurde schlecht.
Der Lehrer ging zu der Kiste hinüber, hob sie auf, warf dem Mädchen, das sie fallen gelassen hatte, einen tadelnden Blick zu und räumte sie zurück ins Regal. „Aber ihr müsst euch keine Sorgen machen, meine Lieben. Ich habe dreizehn kleine Gegengifte für euch im Wald auf der anderen Seite des Sees versteckt.
Jede von euch, die ihres findet, bekommt in meinem Fach die beste Note. Außerdem bekommt ihr ein Amulett von mir, das ihr auf keinen Fall ablegen dürft.“ Er unterbrach seinen Redefluss, um auf eine Wortmeldung einzugehen.
„Wir sind nur noch zwölf.“ Samara stellte das sehr neutral fest.
Die Lehrer setzte ein betrübtes Gesicht auf. „Das tut mir leid. Allerdings ändert es nichts an meinen Konditionen. Ich habe dreizehn Gegengifte versteckt. Von jetzt an habt ihr etwa sechs Stunden Zeit, um euch euer Gegenmittel zu beschaffen. Ich gehe davon aus, dass das jeder von euch gelingt. Sonst müsst ihr leider sterben. Aber ich bin optimistisch, dass das nicht passieren wird. Für jede von euch habe ich ein Rätsel vorbereitet, das sie zu ihrem Ziel bringen sollte. Ihr habt eine Stunde Zeit.“ Aus einer Schublade in einem Schrank holte er einen Stapel kleiner Blätter und verteilte sie.
Mir kroch die Angst den Nacken hinauf und Schweiß trat aus jeder meiner Poren. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Was war das für eine Schule, an der die Lehrer ständig versuchten, ihre Schüler zu töten?
Die anderen Mädchen, die ihre Rätselzettel bereits bekommen hatten, lasen sie mit tief gefurchter Stirn und verließen dann mit ihren Begleitern den Raum. Ich bekam ein Amulett an einem rauen Band. Der Anhänger war aus schwarzem Stein, in den ein Zauber graviert war. Sehr ähnlich zu dem, den ich bereits besaß. Ich streifte mir die Kette über den Kopf und nahm den Zettel entgegen. Es waren nicht viele Worte darauf und die Zeilen ergaben keinen Sinn.
Eins zu zwei. Schau der roten Sonne nach. Dunkelheit.
Wie sollten diese Worte dabei helfen mein Leben zu retten? Taumelnd erhob ich mich von meinem Platz und flüchtete nach draußen. Wo war Liam? Dieser blöde Begleiter sollte endlich mal anfangen seinen Job zu machen!
Eine wertvolle halbe Stunde verschwendete ich damit Liam im Schloss zu suchen. Schließlich fand ich ihn im Kampfsportraum, wo er sich angeregt mit meinem sadistischen Lehrer Nelio unterhielt.
„Jetzt hör auf zu quatschen! Ich wurde vergiftet. Hilf mir das Gegengift zu finden.“ Erst als ich die Wahrheit so schonungslos aussprach, wurde mir wirklich bewusst, wie real die Gefahr war. Meine Augen begannen zu brennen und der Schweiß auf meine Haut fühlte sich eiskalt an.
Liam löste sich sofort aus dem Gespräch und war in wenigen Schritten bei mir. Seine Konturen verschwammen. Weinte ich etwa? Dafür war jetzt keine Zeit. Wütend wischte ich die Tränen ab.
„Was ist passiert? Wer hat dich angegriffen? Was für ein Gegengift brauchst du?“ Die Fragen kamen schnell und präzise.
Ich packte ihn am Arm und zog ihn mit mir – hoffentlich in Richtung Ausgang. Hundertprozentig sicher war ich mir über die Wege im Schloss noch nicht. „Arcanos hat uns allen vergifteten Kuchen und Tee serviert. Ein Gegengift für jede hat er aber im Wald versteckt. Das Problem ist nur, dass ich statt einer genauen Wegbeschreibung nur ein blödes Rätsel bekommen habe.“
Er sog geräuschvoll die Luft ein. „Das ist nicht das Problem. Viel schlimmer ist, dass er sie im Wald versteckt hat. Dort haust eine uralte Kreatur, die man nicht bekämpfen kann und deren Feuer so tödlich ist, dass es selbst einen Halbdämon vernichtet. Es tötet einfach alles.“
Großartig. Dieser Schlamassel wurde immer besser.
„Gibt es keinen anderen Weg? Könnte Ylva helfen?“ Liam schien in allen Richtungen nach Lösungen zu suchen.
„Nein, ich weiß nicht, was Arcanos benutzt hat. Und selbst wenn, würde sie mir wahrscheinlich ohnehin nicht helfen.“
Liams Hand legte sich auf meine Schulter und stoppte mich. Er deutete in eine andere Richtung. „Zum Wald geht es dort entlang. Von welchem Rätsel hast du gesprochen?“
Ich gab ihm den Zettel und folgte ihm durchs Schloss. „Verstehst du wie das gemeint ist?“, fragte ich, als er das Blatt sinken ließ.
Er zögerte mit seiner Antwort. „Nicht hundertprozentig.“
„Uns bleibt wahrscheinlich noch eine halbe Stunde, falls mich mein Zeitgefühl nicht trügt. Wenn es in diesem blöden Schloss wenigstens Uhren gäbe.“
„Ich habe ein ziemlich zuverlässiges Gefühl für Zeit.“
Wir erreichten das Eingangsportal. Schwarz und bedrohlich ragte es vor uns auf. Als wir näherkamen, öffnete es sich quietschend wie von Geisterhand und gab den Blick auf die Nacht, den See und den Wald frei.
Wir traten nach draußen und die klare Luft füllte meine Lunge. Im Schein des Mondes sah ich eine meiner Mitschülerinnen durch den See schwimmen. Eine andere lief anmutig über das Wasser, als handele es sich um festen Grund. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich Isabella, auf deren Schulter Garos saß. Wie viele Zauber beherrschte sie bereits?
Ohne mich vor zu warnen zog Liam mich an sich und nahm mich auf seine Arme.
Ich zappelte. „Lass mich los!“
„Sei nicht albern.“ Er stieß sich mit einem großen Sprung vom Boden ab und schlug kräftig mit seinen Flügeln.
Wir gewannen an Höhe. Sofort hörte ich auf mich zu wehren und klammerte mich stattdessen an ihn, als versuchte ich mit ihm zu verschmelzen. „Lass mich nicht fallen.“ Ich schluckte und fügte etwas kleinlauter hinzu: „Danke, dass du mir hilfst.“
Seine Wärme und sein Geruch durchdrangen mich. Es wäre einfacher ihn zu hassen, wenn er wenigstens stinken würde.
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Ein Kommentar zu „Zehntes Kapitel: Logik und Kreatives“