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Schließlich gelangten wir durch viele schmale Gänge und über einige schiefe Treppen in einen düsteren Saal.
An den steinernen Wänden konnte man im Halbdunkel Symbolzeichnungen aus Kreide und brauner Farbe ausmachen. Es gab drei große Tische im Saal. Auf einen davon steuerten die Hexenschülerinnen zu.
Ich setzte mich zu den anderen und sah mich um. Die Decke lag in einer rauchigen Dunkelheit verborgen, aus der eine Eisenkette herausragte, an dem ein Kerzenleuchter hing. Allerdings war der Saal so groß, dass das Licht einfach nicht ausreichte.
Abgesehen von unserem Tisch gab es noch zwei weitere. An einem davon saßen dreizehn Jungen. Ein oder zwei sahen aus wie völlig normale Zwölfjährige. Der Rest jedoch zeigte verschiedene Abstufungen von etwas Animalischem. Viele hatten mit grauem Fell bedeckte Arme oder Handrücken. Einige hatten sogar schnauzenförmig anmutende Gesichter. Sofort musste ich an den schüchternen Wolf denken. Waren diese Jungen wie er? Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick vom Nachbartisch lösen und bemerkte nun, dass Samara mich beobachtet hatte.
Ihre Mimik konnte ich jedoch nicht deuten.
Lärm brandete auf, als eine andere Gruppe in den Raum trat. Sie zog mich sofort in ihren Bann. An dieser Gruppe ließ sich überhaupt keine Regelmäßigkeit feststellen.
Ein asiatisch aussehendes Mädchen flimmerte ständig, so als könnte sie jeden Augenblick verschwinden.
Ein Junge sah einfach unglaublich schön, aber sehr menschlich aus. Seine Ausstrahlung weckte sofort den Wunsch in mir, ihm näher zu sein.
Ein anderer Junge war leichenblass und hatte die intensivsten Augenringe, die ich jemals gesehen hatte. Wie eine wandelnde Leiche. Durch seinen geschlossenen Mund lugten spitze Eckzähne heraus, die perlweiß schimmerten im fahlen Licht.
Ein Mädchen trug bläulich schimmernde Insektenflügel auf dem Rücken und schlanke, geschwungene Hörner auf dem Kopf. Hinter ihr her peitschte ein Schweif, der in einer dreieckigen Spitze mündete.
Ein Junge hatte einen Hautton, der zwischen grau und grün lag. Er bewegte sich merkwürdig schleppend durch den Saal. Wie ein… Zombie?
Ein Junge hatte fatale Ähnlichkeiten mit einem Insekt. Er ging aufrecht auf riesigen Insektenbeinen hatte ein paar Insektenarme, die ihm aus der Taille wuchsen und ein paar Insektenarme an den Schultern statt normaler Arme. Statt eines Unterkiefers hatte er zwei riesige Mandibeln. Ich schauderte.
Die restlichen Gestalten zeigten weitere Anomalien. Ich konnte gar nicht überall zugleich hinschauen.
Die neue Gruppe setzte sich an den letzten freien Tisch. Nur mit äußerster Willenskraft gelang es mir, den Blick abzuwenden, um die Leute nicht schaulustig anzuglotzen.
„Was für eine Zumutung, dass wir mit solchen Wesen im selben Raum essen müssen!“, zischte Isabella. Einige ihrer Jüngerinnen murmelten Zustimmungen.
Je besser ich Isabella kennenlernte, desto weniger konnte ich sie leiden. Ich blickte zum Tisch mit der gemischten Gruppe. Alle schienen sich zu unterhalten. Das Stimmengewirr schwappte bis zu uns herüber. Aber dadurch, dass alle durcheinanderredeten, verstand ich nicht, worum es ging.
Ihr Anblick erinnerte mich daran, dass ich hier völlig fehl am Platz war. Bis gestern hatte ich ein normales Menschenleben geführt und jetzt war ich mit sämtlichen Horrorgestalten in einem Schloss eingepfercht.
„Sind das alle Schüler für den Meister?“, flüsterte ich. Aber nicht leise genug.
Isabella hatte mich gehört, lachte glockenhell und blickte verächtlich drein. „Ob das alle sind! Du bist wirklich die dümmste Person, der ich je begegnet bin – und das will etwas heißen. Nein, wir sind die Erstklässler, du Idiotin. Es gibt schließlich von jeder Klasse dreizehn Jahrgänge. Ob das alle sind…“ Ihre Jüngerinnen kicherten.
Quietschende Räder zogen meine Aufmerksamkeit auf sich. Durch einen der Torbögen wurde ein eiserner Wagen hereingeschoben und nun direkt zu der Jungsgruppe mit den Schnauzengesichtern manövriert. Die Gestalt, die den Wagen schob, erkannte ich sofort. Theresia. Als sie an dem anderen Tisch ankam, stellte sie einen Stapel Teller auf den Tisch, sowie einen großen Topf, aus dem es dampfte. Besteck wurde keines ausgeteilt. Der Grund dafür war nicht schwer zu erraten: Kaum stand der Topf auf der Tischplatte, griffen sechsundzwanzig Hände danach. Ein Ziehen und Zerren brach aus, während Theresia schon zum Tisch mit den verschiedenen Geschöpfen ging. Am Jungstisch riss der Stärkste den Topf an sich, wodurch eine Menge Soße auf die Tischplatte schwappte. Der Junge fletschte gegenüber den anderen die Zähne – er hatte ein beeindruckendes Gebiss, mit ausgeprägten Reißzähnen im Ober- und Unterkiefer. Die anderen Jungen gaben daraufhin ihren Protest auf und schauten missmutig dabei zu, wie der mit dem Topf mit bloßen Händen zugriff und sich halb rohe, rot tropfende Fleischstücke in den Mund stopfte. Die Teller wurden nicht angerührt.
Theresia verschwand mit leerem, quietschendem Wagen, woraufhin die Beschwerden an meinem Tisch erheblich anschwollen.
Isabella verkündete: „Ich verabscheue diesen minderwertigen Haufen Knochen zutiefst! Man sollte dieses dreckige Geschöpf irgendwo einmauern und nie wieder herauslassen.“
„Das würde nichts bringen. Sie kann nicht sterben“, sagte Samara, die bisher geschwiegen hatte, nun in ruhigem Ton.
Ich wünschte, mir würde irgendetwas einfallen, dass ich sagen konnte, um Theresia zu verteidigen. Doch mein Kopf enthielt keine Worte, sondern nur Empörung, welche sich entladen wollte. Aber wie? Anspannung hatte von mir Besitz ergriffen, als könnte ich über den Tisch springen und Isabella auf diese Art Einhalt gebieten. Doch ich blieb sitzen und schwieg, während die anderen weiterredeten.
Theresia kam zurück und servierte jeder einzelnen von uns einen Teller, der unter einer silbernen Haube verborgen war – sowie Besteck, Stoffservietten und Getränke. Mir gab sie zuerst etwas und Isabella als letzte. Dabei ignorierte das Skelett jede der halblauten Beleidigungen geflissentlich. Es schien ihr Spaß zu machen, die anderen zu provozieren.
Zu meinem Erstaunen sah das Essen, das ich unter der Haube vorfand, köstlich aus. Verschiedenes Gemüse, Kartoffeln und braune Soße dampften verheißungsvoll. Nachdem ich gesehen hatte, was den anderen Tischen serviert worden war… Außerdem gab es Karaffen mit Wasser und kunstvolle Trinkgläser. Ich stürzte mich auf die Flüssigkeit.
Nach dem Essen folgte ich Samara, die mir jedoch schnell klar machte, dass damit nun Schluss war: „Die Schulnacht ist vorbei. Ich will jetzt meine Ruhe.“
Dass wir für heute fertig waren, erleichterte mich zutiefst. „Kannst du mir vielleicht noch die Dusche zeigen…?“
Die Dusche bestand aus zwei nebeneinander liegenden Räumen. Der eine Raum war eine Gemeinschaftsumkleide und der andere eine großräumige Dusche mit mehreren Duschköpfen – ohne Trennwände. Jeder Duschkopf hatte die metallene Tiergestalt eines Fabelwesens. Drachen, Feen, Gnome. Beide Räume hatten dieselben dunklen Steine in Boden und Wänden wie der Rest des Schlosses. In der Umkleide stand eine Bank in der Mitte des Raumes – aus altem, abgenutztem Holz. An einer Wand stand ein Regal, in dem die meisten Fächer leer waren. In denen, die es nicht waren, lagen schwarze Handtücher und feste Seifen. „Bring es einfach hinter dich“, sprach ich mir selbst Mut zu. Ich war zwar allein, aber mich hier auszuziehen, obwohl jeder Zeit jemand hereinkommen könnte… Aber bei all dem Schweiß musste ich einfach duschen. Also zerrte ich mir den Stoff über den Kopf, nahm mir ein Seifenstück und trat in die Dusche. Ich stellte mich unter einen der Drachenköpfe und augenblicklich schoss Wasser herab. Eiskaltes Wasser.
Kreischend brachte ich mich mit einem Hechtsprung in Sicherheit. Das konnte doch wohl nicht deren ernst sein?! Ich suchte nach etwas, um die Temperatur zu regulieren, fand aber nur eine Zaubergravur im Stein, an der ich absolut nichts verändern konnte. Ich probierte die anderen Duschköpfe, doch aus jedem kam lediglich eiskaltes Wasser. Also stellte ich mich widerstrebend unter einen Greifen-Duschkopf bis ich klatschnass war, seifte mich bibbernd von Kopf bis Fuß ein und spülte mich ab so schnell es ging.
Auch beim Abtrocknen kam niemand herein und ich schlang mir ein großes schwarzes Handtuch um die Brust, griff nach dem durchgeschwitzten Kleid und begab mich auf den Rückweg.
Zu meinem Glück fand ich meine Schlafkammer von alleine und begegnete keinem.
Ich zog mir ein neues, sauberes Kleid an, wickelte mir das Handtuch um meine mausbraunen Haare und schlüpfte unter die müffelnde Decke. Wenn ich erst zaubern konnte, würde ich zuerst eine Fensterscheibe, dann eine Heizung und dann heißes Wasser installieren.
Es war immer noch Nacht und ich starrte in den Sternenhimmel jenseits meines Fensters. Jetzt drängten alle Gedanken zurück an die Oberfläche. Wo war ich hier nur gelandet? Was für einen Dämon sollte ich beschwören? Suchte die Polizei schon nach mir? War ich wirklich ein Wechselbalg?
Es waren viel zu viele Gedanken, Fragen und Gefühle für einen einzigen Kopf. Ich dämmerte eine Zeit lang vor mich hin und wartete darauf, dass mir warm wurde und dass sich das Chaos lichtete. Dann würde ich irgendwo die Kraft finden nochmal aufzustehen und in die Bibliothek zu gehen, um mir einen Dämon auszusuchen.
Draußen hatte die Nacht einen bläulichen Farbton angenommen. Es konnte nicht mehr lange dauern, ehe der Sonnenaufgang anbrach. Du kannst hier nicht nur herumliegen, ermahnte ich mich schließlich. Widerwillig kroch ich unter der Decke hervor und begann fast augenblicklich erneut zu frieren. Die nettesten und hilfsbereitesten Menschen in diesem Schloss waren Theresia und Wolf. Sie musste ich finden, um diese Dämonensache zu klären. Nochmal wegzulaufen traute ich mich nicht. Dieser Meister würde mich doch bestimmt in einen dieser Käfige sperren.
Ich lief die enge Treppe zu meiner Kammer hinunter. Noch immer kannte ich mich nicht besonders gut aus, doch zumindest konnte ich von hier aus den Beschwörungsraum finden, wenn schon nicht den direkten Weg zur Bibliothek. Das ganze Schloss war wie ein riesiger Ameisenbau, dessen Tunnel ohne Sinn und Verstand angelegt worden zu sein schienen. Wie zuvor hatte ich das Gefühl, dass sich in den zahlreichen Schatten, die durch die Kerzenbeleuchtung entstanden, etwas bewegte und mich beobachtete. Hoffentlich war es mir freundlich gesinnt. Ich ging den Weg zum Beschwörungsraum und konzentrierte mich darauf mich nicht zu verirren.
Um diese Uhrzeit waren nicht mehr so viele Geschöpfe unterwegs wie zuvor. Nur einmal sah ich eine Gestalt mit merkwürdig schleifenden Bewegungen am Ende meines Ganges, doch sie war schnell wieder verschwunden.
Im Beschwörungsraum war niemand und die Kerzen waren erloschen. Der Raum war vollkommen dunkel. Sobald ich durch die Tür trat, entzündeten sich die Kerzen jedoch wie von Geisterhand und gaben den Blick frei auf die Möbel und die merkwürdigen Geräte. Offenbar war Theresia nicht hier.
Trotzdem betrat ich den Raum und ging zu den Fenstern, um einen sehnsüchtigen Blick nach draußen zu riskieren. Ich legte die Hände auf den unteren Fensterrahmen und zuckte zurück vor der Kälte, in die meine Fingerspitzen dabei eingetaucht waren. Mit einem mal wurde mir bewusst, wie viel angenehmer die Temperatur im Beschwörungsraum war, verglichen mit meiner Schlafkammer. Obwohl es auch hier keine Fensterscheiben gab. Erneut streckte ich meine Hände aus und griff nach draußen. An einem bestimmten Punkt wechselte warme Luft in kalte über. Wie konnte es sein, dass die Temperatur sich nicht ausglich? Widersprach das nicht den Gesetzen der Physik?
Ein Schatten stürzte von draußen auf mich zu.
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