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Erstes Kapitel: Halloween
So leise wie möglich durchforstete ich die Kammer nach allem, was mir nützlich sein könnte. Leider gab es da nicht allzu viel.
Ich fand schlichte Kleidungsstücke (ausschließlich schwarze Kleider aus grobem Stoff), eine Holz-Zahnbürste aus Wildschweinborsten und gelbliches Pulver. Einen Holzkamm, Stifte und Papier. Stiefel. Nichts davon würde mir bei einer Flucht helfen.
Ich zog eines der Kleider über das Partykleid, das ich bereits trug. Wegen der Entführung war es mit Dreck und Ruß verschmiert.
Ich öffnete die Holztür und lauschte. Nichts. In dem düsteren, steinernen Gang war nur Stille.
Schritt für Schritt ging ich die Treppe hinunter. Aus weiter Ferne drangen Geräusche aus den Eingeweiden des Schlosses an mein Ohr. Allerdings waren sie so verzerrt, dass ich nicht wusste, was ich da eigentlich hörte. Gespräche? Das Heulen des Windes? Knarren? Das Kratzen von Krallen auf Stein?
Der flackernde Halbschatten und die undefinierbaren Geräusche verursachten mir eine Gänsehaut. Es dauerte nicht lange, bis ich an eine Stelle kam, an der ich nicht mehr weiter wusste. Waren wir von links oder von rechts gekommen? Drei gleich aussehende Treppen trafen an dieser Stelle trigonal aufeinander. Auf einer davon stand ich selbst. Doch musste ich mich jetzt nach links oder nach rechts wenden? Das Märchen von Hänsel und Gretel drängte sich mir auf. Vielleicht sollte ich ebenfalls meinen Weg markieren. Aber nicht mit Brotkrumen. Ratlos tastete ich über den rauen Stoff des Kleides. Was hatte ich bei mir, was man dafür benutzen konnte?
Nichts. Ich bereute es, die Stifte nicht mitgenommen zu haben. Aber für so etwas würde ich nicht noch einmal zurückgehen. Nachdenklich blickte ich mich um, bis mir schließlich meine eigenen Hände ins Auge stachen. In den Innenflächen klebten Schorfplättchen. Mir kam eine gruselige Idee. Bevor ich zu viel darüber nachdenken konnte, riss ich die frischen Wunden wieder auf und quetschte das Blut heraus.
Ich schmierte es auf das Holz der Treppe, auf welcher ich stand, und entschied mich dafür links weiterzugehen. Auch diese Treppe markierte ich mit meinem Blut. Ich gelangte in einen Gang, der so dunkel war, dass ich kaum sehen konnte, in welche Richtungen er sich bog. Aus den Augenwinkeln meinte ich eine Bewegung zu sehen. Ich ging schneller. Nach einigen weiteren Schritten hörte ich ein nahes Geräusch, direkt hinter mir. Folgte mir jemand?
Ich blickte zurück, obwohl ich kaum etwas sah. In diesem Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig.
Ein spitzer Schmerz bohrte sich in meiner Brust, als ich in etwas hineinrannte. Trockenes Klappern ertönte. Jemand rief: „Hast du keine Augen im Kopf?“ Rotes Licht flammte auf. Ich lag am Boden.
Als ich versuchte, einen Überblick über die Situation zu bekommen, erblickte ich ein menschliches Skelett. Allerdings bewegte es sich. Es bewegte sich von allein, so als wäre es gar nicht tot. Jetzt griff es nach einem am Boden liegenden Skelettarm und drückte ihn ins Schultergelenk zurück. Deutlich hörbar rastete der Knochen wieder im Gelenk ein.
Der Satz ‚Hast du keine Augen im Kopf?‘, war umso bemerkenswerter, da das Skelett mich aus rot leuchtenden, leeren Augenhöhlen anstarrte.
Das alles konnte nicht echt sein! Aber warum fühlte es sich dann so real an? Konnte ich etwas misstrauen, das ich mit eigenen Augen sah? Ich bebte vor Angst und wagte es nicht, mich zu rühren.
Das Skelett legte den Kopf schräg und verlagerte das Gewicht. Die Bewegung wirkte feminin.
„T-Tut m-mir leid.“ Verdammt. Ich sollte lieber unerschrocken wirken und nicht wie das verängstigte Mädchen, das ich in Wirklichkeit war! Oder sollte ich wieder weglaufen?
Das Skelett klapperte mit dem Kiefer und grummelte: „Das will ich dir auch geraten haben! Was fällt dir eigentlich ein, mich zu schubsen? Du hältst dich wohl für besonders toll, weil du Haut und Gewebe hast und all diesen oberflächlichen Kram. Ihr Hexen seid doch alle gleich!“
„Ich bin keine Hexe.“
„Was bist du dann?“ Das zornige, rote Licht verblasste allmählich zu einem warmen Schein.
Mir fiel ein, dass ich vor etwas davon gerannt war und ich riskierte einen Blick zurück. Nur Schatten.
„Mhh… ich suche den Ausgang.“ Konnte die Knochenfrau mir vielleicht helfen? Bislang hatte sie zumindest nicht versucht, mir etwas zu tun.
Das Skelett klapperte wieder mit dem Kiefer, als würde sie nachdenken. In diesem Moment tauchte ein Junge aus den Schatten auf. Waren es seine Schritte, die ich vorhin gehört hatte?
Erst auf den zweiten Blick erkannte ich, dass es sich nicht um einen normalen Menschen handelte. Sein graubraunes Kopfhaar reichte etwas zu weit ins Gesicht hinein. Aus seinem voluminösen Haar lugten kleine Ohrspitzen heraus. Spitze Ohren. Seine Augen hatten einen gelblichen Schimmer. Seine Nase war verdickt und erinnerte von der Form her an eine Schnauze. Seine ganze Gestalt war vornübergebeugt und seine übermäßig langen Arme reichten ihm fast bis zu den Knien. Für einen Moment fixierten seine gelblichen Augen mich, bevor er den Blick senkte und einen Schritt zurücktrat. Er huschte zum Skelett und stellte sich seitlich hinter sie, als suchte er Deckung.
„Wolf, solltest du nicht bei Meister Ragnos sein?“, fragte das Skelett.
Er zuckte mit den Schultern, was durch seine überlangen Arme unbeholfen aussah. Seine Antwort war kaum zu verstehen. „Ich sollte neue Stifte holen und auf dem Weg hat es so lecker gerochen – wie von Blut.“ Sein Blick zuckte kurz zu mir, bevor er auf seinen Fußspitzen starrte. Er trug keine Schuhe. Seine Zehennägel waren dicker als sie sollten, gelblich und sie liefen spitz zu.
Das Skelett nickte, als wäre es das Normalste der Welt eine Blutspur lecker zu finden. „Rate mal was die Kleine gerade erzählt hat.“
Wolf guckte fragend.
„Sie sucht den Ausgang.“
Er blickte mich an und fragte wieder so leise, dass ich ihn kaum verstand: „Darf sie denn raus?“
Der Totenschädel wandte sich wieder mir zu.
Vermutlich nicht. „Ja“, log ich selbstbewusst.
Tränen brannten mir in den Augen. Das durfte doch alles nicht wahr sein!
„Hör mal – am besten gehst du einfach zurück in deine Kammer. Ohne einen Begleiter ist es für dich viel zu gefährlich hier draußen.“
„Ich bin keine Hexe!“
Das Skelett streckte mit ihre Handknochen entgegen. Für einen Moment zögerte ich vor Ekel, gab mir jedoch einen Ruck. Ich ergriff ihre Hände und sie zog mich erstaunlich kraftvoll auf die Füße. Wie war das ohne Sehnen und alles überhaupt möglich?
Das Skelett tätschelte mir die Wange und davor zuckte ich nur ein bisschen zurück. „Fangen wir nochmal von vorn an: Ich bin Theresia. Ich arbeite schon ewig hier und gehöre zu den Netten. Das ist Wolf“ – sie deutete auf den Jungen, der erschrocken zurückwich. „Er ist auch einer von den Netten. Und du bist?“
Ich schluckte. „Nora.“
„Sehr schön Nora. Dann geh jetzt zurück in deine Kammer und bleib da. Es wimmelt hier nämlich vor Wesen, die nicht zu den Netten gehören und du hast verdammtes Glück, ausgerechnet an uns beide geraten zu sein.“
Ich sah zwischen ihr und Wolf hin und her. „Ähm… Okay.“ Langsam wich ich zurück und drehte mich schließlich weg. Wenn die beiden mich hätten angreifen wollen, hätten sie das bestimmt längst getan. Theresia, das Skelett. Wolf, der komische Junge. Wenn das tatsächlich eine Halluzination war – was ich immer weniger glauben konnte – war ich doch ziemlich kreativ.
Ich suchte meine Blutspuren. Sollte ich meine Flucht fortsetzen? Irgendwo hallte ein Knurren nach. Nein, erstmal nicht. Ich beeilte mich in meine Schlafkammer zurückzukommen und versuchte nicht darüber nachzudenken, was für Wesen ich begegnen könnte, die nicht zu den „Netten“ gehörten. Allein würde ich es vermutlich nie aus dem Schloss herausschaffen.
In der Kammer legte ich mich auf das knarzende Bett. Es wackelte und quietschte. Die Matratze war so hart, wie gepresstes Stroh. Die Bettdecke dünn und der Bezug rau. Es müffelte nach feuchtem Stoff, der eine Wäsche nötig hatte. Und das Zimmer war immer noch eiskalt.
Meine Gedanken kreisten um die Furcht davor, mich in einem Gefängnis zu befinden, aus dem ich nie wieder entkommen könnte.
Und mit den Gedanken kam eine Angst, die tiefer ging als die Angst vor Monstern.
Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und stand auf. Egal was das Skelettmädchen – Theresia – gesagt hatte. Hier konnte ich nicht bleiben.
Abermals schlich ich mich aus meiner Schlafkammer, die enge Wendeltreppe hinunter und den Weg entlang, den ich schon einmal gegangen war.
Irgendwo musste doch dieser verdammte Ausgang sein. An der trigonal aufeinandertreffenden Treppe bog ich dieses Mal auf den anderen Treppenabsatz ab.
Eine Markierung mit meinem eigenen Blut blieb mir dieses mal erspart, da ich klug genug gewesen war, einen Stift aus der Schlafkammer mitzunehmen. Damit markierte ich meinen Weg in Form von kleinen grauen Pfeilen am unteren Bereich der Wände. So ging es einige Zeit.
Doch schließlich traf ich auf jemanden. Erschrocken zuckte ich zusammen, bevor ich sah, dass es sich um Garos handelte. Er bemerkte mich ebenfalls. „Betreibst du Kunst oder was soll das werden?“ Die Krähe saß im Halbschatten eines Ganges und beobachtete mich aus schwarzen Knopfaugen.
Allmählich beruhigte sich mein Puls wieder. Ich rang mich zu einem schwachen Witz durch. „Jep, das ist moderne Kunst.“ Dieses Gespräch war sinnlos. Es war völlig offensichtlich, was ich hier trieb. Würde der Vogel mich aufhalten?
Garos legte in einer ruckartigen Bewegung sein Köpfchen schief. „Gut zu wissen. Ein unbeteiligter Beobachter könnte da auf ganz andere Ideen kommen.“
Ich erwiderte nichts.
„Zum Beispiel könnte er denken, dass du den Weg markierst, um dich nicht zu verlaufen. Was die Frage aufwirft, wo du eigentlich hin willst?“
Nervös fuhr ich mir durch meine Haare. Meine Finger blieben in den zahlreichen Knoten hängen, die die Ereignisse der letzten Stunden hinterlassen hatten. Jetzt bräuchte ich eine schlagfertige Notlüge. Oder eine Ablenkung. Mir fiel nichts dergleichen ein.
„Mhm. In meiner unübertrefflichen Genialität schlussfolgere ich mal, dass du versuchst, aus dem Schloss herauszukommen, weil du glaubst, du seist keine Hexe und dies alles sei nur ein kolossaler Irrtum.“
Ich musste schlucken. Zwar war ich nicht mehr ganz so sicher, keine Hexe zu sein, da ich ja „gerufen“ worden war, aber sonst lag Garos mit seiner Vermutung ziemlich richtig.
„So so. Hat dir schon jemand gesagt, dass dein Unterfangen ziemlich aussichtslos ist?“
Ich straffte die Schultern. „Trotzdem muss ich es versuchen. Ich kann nicht hierbleiben.“
Garos schien ein Moment lang zu überlegen, ehe er ein paar Schritte nach vorne trippelte. „Zu deinem Glück gibt es noch abenteuerlustige Kobolde in diesen Mauern. Ich zeige dir den Weg.“ Er breitete die Flügel aus und hob vom Boden ab, um sich direkt auf meiner Schulter niederzulassen. Sein Gewicht zog an meiner linken Schulter und ich spürte wieder die kleinen Krallenspitzen in meiner Haut.
„Worauf wartest du noch, Lahmarsch?“, krächzte er. „Wir haben nicht mehr viel Zeit bis Sonnenaufgang!“
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und setzte mich in Bewegung. Eine letzte Frage konnte ich mir jedoch nicht verkneifen. „Wieso haben wir nur Zeit bis Sonnenaufgang?“
„Ganz einfach: Bei Tag existiert dieses Schloss nicht. Deshalb kämen wir nicht hinaus. Und jetzt still. Du willst doch nicht, dass uns jemand hört.“
Nun, da mir jemand den Weg wies, kam ich sehr viel schneller voran. Hoffentlich war es kein Fehler der sprechenden Krähe zu vertrauen. Im Grunde wusste ich gar nichts über ihre Absichten.
Immer wieder wies Garos mich an, mich vor jemandem zu verstecken und verlassene Schleichwege einzuschlagen. Alleine wäre ich garantiert jemandem in die Arme gelaufen.
Schließlich erreichten wir das doppelflügelige Tor. Als ich darauf zu ging, öffnete es sich von selbst, obwohl keinerlei elektrische Vorrichtung erkennbar war.
Erleichtert rannte ich los, hinaus in die Nacht, deren zartes Blau bereits die herannahende Dämmerung ankündigte.
Jemand rief mir nach. Oh nein! Man hatte mich gesehen!
Ich sah mich nicht um, sondern rannte einfach schneller. Leider war da der See und ich konnte nirgends eine Brücke erkennen. Ohne lange darüber nachzudenken, rannte ich einfach ins Wasser hinein.
Scheiße tat das weh! Die Kälte biss mir in die Haut und brannte wie Feuer. Trotzdem kämpfte ich mich voran, bis der schlammige Untergrund unter meinen Füßen verschwand und nur noch mein Kopf aus dem Wasser ragte. Die Kleider zogen mich nach unten, die Kälte umklammerte meinen Brustkorb und mein ganzer Körper schmerzte. Spätestens jetzt war ich davon überzeugt nicht zu halluzinieren. Sowas konnte ich mir gar nicht ausdenken!
Garos kreiste über mir und schimpfte krächzend: „Wasserproben sind schon lange nicht mehr in Mode, keine Hexe!“
Mit aller Kraft schwamm ich gegen den Sog der Kleider an. Ich musste in die Freiheit gelangen!
Das andere Ufer war noch ein gutes Stück entfernt. Konnte ich es schaffen eine so weite Strecke in all dem Stoff zurückzulegen? Zweifel kam in mir auf. Aber ich musste es einfach schaffen.
Zu meinem Entsetzen ließen meine Kräfte bereits nach, obwohl ich kaum die Hälfte der Strecke geschafft hatte. Angst vorm Ertrinken breitete sich in meinem Gehirn aus wie giftiger Nebel. In hektischer werdenden Bewegungen kämpfte ich mich durchs Wasser. Immer öfter schwappte es mir dabei in den Mund und rann meinen Rachen hinunter. Hustend und spuckend kämpfte ich weiter. Sollte ich umkehren?
Da packte mich jemand grob bei den Schultern und zerrte mich aus dem See. Eine dichte Nebelwolke umgab uns. Als ich mich wand und drehte, erblickte ich den Gehörnten. Das Monster. Seine leuchtenden Augen sahen ziemlich wütend aus. „Dummes Mädchen!“, grollte er und entblößte dabei spitze Zähnen. „Versucht sich gleich in der ersten Nacht zu ertränken.“
Er warf mich über die Schulter, drehte sich um und stapfte über die Wasseroberfläche zurück in Richtung Schloss.
Durch die Nebelschwaden sah ich das andere Ufer, das ich so dringend hatte erreichen wollen. Mit jedem Schritt des Monsters entfernte es sich. Ich spuckte, hustete und erbrach Seewasser auf Rücken und Beine des Gehörnten. Es schien ihn nicht zu kümmern. Er trampelte einfach weiter über die Wasseroberfläche, als bestünde sie aus festem Boden.
Die Nacht wurde heller und durch meine nassen Klamotten drang die Kälte bis in meine Knochen vor. Kurz meinte ich einen dunklen Vogelschatten hoch über uns kreisen zu sehen. Ein normaler Vogel oder Garos? Aber ich wollte ihn nicht verraten. „Wohin bringst du mich?“, keuchte ich. Mein Entführer antwortete nicht.
Ich wurde zurück zur Insel getragen und hinein ins Schloss. Der tanzende Kerzenschein hatte mich wieder. Soweit ich es beurteilen konnte, wurde ich einen anderen Weg entlang getragen. Der Gehörnte legte keinen Wert darauf, unbeobachtet zu bleiben. Infolgedessen schlossen sich immer mehr Schaulustige an. Gestalten wie aus Horrorfilmen. Ich sah Klauen, Hörner, Flügel, undefinierbare Extremitäten und jede Menge höhnischer Gesichter. Offenbar war mein verzweifelter Fluchtversuch die Attraktion der Nacht.
Schließlich gelangten wir in einen Saal von zentraler Bedeutung. Er war viel größer als alle anderen Räume, die ich bisher hier gesehen hatte. Schwarze, mit Schnitzereien verzierte Säulen bildeten einen perfekten Kreis um ein in den Boden graviertes, silbernes Pentagramm. Das sah ich nur, indem ich mir den Hals verrenkte, denn der Gehörnte hatte mich immer noch auf seiner breiten Schulter. Die Schaulustigen kicherten und zischten.
Mein Entführer blieb vor dem Pentagramm stehen und die Gravur flammte rot auf. Instinktiv begann ich damit mich zu wehren. Ich musste von dieser riesigen Schulter herunter! Mit dem roten Licht verstummten die Geräusche der Zuschauer ehrfürchtig. Ich konnte nicht entkommen, denn der Gehörnte hielt meine Beine fest an Ort und Stelle, als wären seine Arme und Hände aus Stein. Er ging in das rote Pentagramm hinein, in dessen Mitte der Beginn einer Wendeltreppe erschienen war. Ich war nicht stark oder schwer genug, um diesen Kerl auch nur aus dem Gleichgewicht zu bringen. Egal wie sehr ich mich aufbäumte, strampelte oder auf ihn eindrosch. Es war, als besäße er kein Schmerzempfinden. So begannen wir den Abstieg in die Tiefe.
Es war ein langer und dunkler Weg. Als hätte er kein Ende. Nach einer Ewigkeit, in der ich mich ausreichend über meine kopflose Flucht ärgern und mich vor dem, was mir bevorstand, fürchten konnte, wurde es allmählich heller. Wimmern und Wehklagen drangen an mein Ohr. Der Geruch von altem Schweiß, Blut und Fäkalien wurde intensiver.
Wir betraten eine Höhle. Der Gehörnte ließ mich zu Boden fallen. Als ich mich aufrappelte und mich umsah, erblickte ich eine Höhle voller Käfige. Darin kauerten Menschen – mit grauen Flügeln auf den Rücken. Anders als Liams Flügel jedoch aus Federn. Die Menschen waren schmutzig. Viele hatten Wunden. Waren abgemagert. Mitleid, Ekel und Entsetzen schlugen über mir zusammen. Stand mir dasselbe vor? Wer tat Leuten so etwas an?
Als hätte mein Gedanke ihn herbei beschworen, schlenderte ein Mann zwischen den Käfigen auf uns zu. Er trug einen sauberen, tadellos sitzenden Anzug. Und er lächelte. Wie konnte man inmitten all dieses Grauens Lächeln?
Eine Gänsehaut lief prickelnd über meinen Körper. Mein Herz sackte einige Zentimeter nach unten.
Der Mann kam vor uns zum Stehen. Seine schlanke Gestalt überragte mich um einen Kopf. Mit schmeichelnder Stimme sagte er: „Nora. Wie ich hörte, hast du versucht wegzulaufen. Weißt du denn nicht, dass es dafür keinen Grund gibt?“ Wieder lächelte er, doch es lag keine Freundlichkeit darin.
Mein Blick zuckte zu den Käfigen. Ich musste mich räuspern, bevor ich sprechen konnte. „Mir wurde gesagt, ich sei eine Hexe. Tochter der Nacht. Aber das bin ich nicht. Ich gehöre nicht hierher.“
Sein kaltes Lächeln verbreiterte sich. „Ganz im Gegenteil, du armes, fehlgeleitetes Kind. Du bist die Tochter einer der altehrwürdigen Familien, die mir schon seit Jahrhunderten die Treue halten. Der kleine Preis, den du dafür zahlen musst, ist die Gefolgschaft mir gegenüber.“
Meine Eltern waren ganz sicher keine Gefolgsleute von… ihm. Wie es klang, war er dieser ‚Meister der Finsternis‘. „Das ergibt keinen Sinn – ich kann nicht aus einer altehrwürdigen Hexenfamilie stammen!“
Der Mann lächelte, doch seine dunklen Augen blieben ungerührt. „Es sei denn, du wärst ein Wechselbalg.“
Wechsel- was? Da ich nichts sagte, sprach er weiter. „Aber eigentlich wollten wir über deine Flucht reden. Das war sehr ungehorsam von dir. Und Ungehorsam wird bestraft, meine Liebe.“
Sein süßlich glatter Tonfall lief mir kalt den Rücken hinunter. Wieder zuckte mein Blick zu den eingesperrten, schmutzigen Menschen in den Käfigen. Ich schluckte. Trotzdem musste ich es noch ein letztes mal versuchen. „Ich möchte nach Hause. Und ich bin kein Wechseldings.“
Sein kühles Lächeln verblasste. Für einen Moment huschte ein harter Ausdruck über sein Gesicht. Doch er war so schnell wieder verschwunden, dass ich mir nicht sicher war, ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte. „Warum solltest du das wollen? Bei mir bekommst du alle Möglichkeiten. Du kannst Dinge tun, die andere sich nicht mal erträumen können. Wieso sollte das jemand aufgeben?“
Wegen meiner Freiheit, wegen Jesse und wegen meiner Familie? Ich blieb stumm.
Seine Miene verdüsterte sich. Er musterte mich. Langsam kehrte sein einschmeichelndes Lächeln zurück. „Wenn ich dich nicht überzeugen kann, wie wäre es dann mit einer kleinen Wette? Wenn du gewinnst, lasse ich dich gehen.“
Er würde mich nicht in einen Käfig sperren? Ich bekam meine Freiheit? „Okay!“
Ein breites Lächeln wuchs auf dem Gesicht meines Gegenübers, obwohl seine Augen nach wie vor hart blieben. „Wenn du es schaffst, dieses Halbjahr als beste Hexe deines Jahrgangs abzuschließen, darfst du nach Hause gehen.“
„Und Sie werden mich für den Rest meines Lebens in Ruhe lassen?“
Er nickte.
Das war zu gut, um wahr zu sein.
Der Mann reichte mir eine elegante Hand. Nach kurzem Zögern ergriff ich sie und besiegelte die Wette mit einem Händedruck. Ein elektrischer Schlag durchzuckte meine Hand bei der Berührung. Seine Haut war kalt wie die eines Toten.
Der Gehörnte packte mich am Arm, als ich nochmal das Wort ergriff: „Was ist ein Wechselbart?“
„Wechselbalg. Bei Zwillingsgeburten in Hexenfamilien wird ein Kind oft in die Obhut einer sterblichen Familie gegeben, um Erbstreitigkeiten zu vermeiden.“
„Und die Menschen wundern sich nicht?“
„Sie bemerken den Austausch nicht.“
„Was passiert mit dem echten Kind?“
Wieder ein kaltes Lächeln. Der Meister wandte sich ab und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Oh Gott. Wurde das echte Kind umgebracht? Der Gehörnte zog mich mit sich zur Wendeltreppe. Konnte das stimmen? War ich gar nicht die echte Tochter meiner Eltern? Allein der Gedanke entwurzelte mich und öffnete ein schwarzes Loch in mir. Aber nein. Nein, das konnte nicht sein.
Wir gingen die Treppe hinauf – eine Beschönigung von: das Monster schleifte mich hinter sich her – und nachdem die Todesangst abflaute, merkte ich mit einem mal wie kalt mir war. Mir schwirrte der Kopf und mir war schlecht. Aber ich konzentrierte mich auf die Gegenwart. Jetzt war keine Zeit für Nervenzusammenbrüche. Als wir endlich oben ankamen und die Schaulustigen mich erblickten (unversehrt, lebendig), machten sie enttäuschte Gesichter und verzogen sich. „Was passiert jetzt mit mir?“ Die Worte waren zwischen dem Zähneklappern schwer zu verstehen.
„Ich bringe dich in deine Kammer. Und dort bleibst du.“
Eingesperrt in die kalte Kammer entledigte ich mich der nassen Kleider, trocknete mich und meine Haare, so gut es mit einem der Kleider aus dem Schrank ging, und versuchte alles, um warm zu werden – zog also jedes trockene Kleidungsstück an, das ich finden konnte. Bis ich wie ein tiefgefrorener Marshmallow unter die müffelnde Bettdecke kroch.
Träge blinzelte ich den bläulichen Nachthimmel an, bevor die Erschöpfung mich in gnädigen Schlaf zerrte. Meine Träume waren wirr. Ich schrie nach Jesse, konnte sie aber nicht erreichen. Ich sah meine Eltern auf meiner Beerdigung. Aber dann merkten sie, dass nicht ich in dem Sarg lag, sondern ein toter Dämon. Ein fremdes Mädchen trat auf sie zu. Ihre echte Tochter. Und schon war ich vergessen. Und ich sah die Engel in den Käfigen. Waren es Engel? Ich wusste es nicht. Sie flehten mich um Hilfe an. Doch ich konnte nichts tun. Am Ende saß ich selbst in einem der Käfige.
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Ein Kommentar zu „Drittes Kapitel: Flucht“