Den Erec mit neuen Augen sehen
Moin, Leser
Nachdem ich mich jetzt ein Semester lang unter anderem mit dem Artursroman „Erec“ von Hartmann von Aue beschäftigt habe, frage ich mich ob und was sich an meinem Blick auf den Text verändert hat.
Grob gesagt geht es in diesem Artusroman um Erec, der sich als Ritter als Mann und als Herrscher beweisen und etablieren muss. Und um seine geliebte Enite, die eine so große Rolle in der Geschichte spielt, das man fast schon darüber spekulieren kann ob sie nicht vielleicht die eigentliche Hauptfigur oder „Heldin“ ist.
Besonders kurios ist die Sache rund ums verligen – also dass Erec und Enite nach ihrer Hochzeit keine Pflichten mehr wahrgenommen haben, weil sie damit beschäftigt waren ihre Minne im Bett zu pflegen. Erec verliert seine Ehre und auch seine „Männlichkeit“ – der ganze Hof ist wütend. Merkwürdigerweise aber vor allem auf Enite. Denn bevor sie aufgetaucht ist, was Erec einfach der Beste und jetzt ist er nur noch im Bett.
Daraufhin ist eine neue Reise fällig bei der Aventiure gesucht werden muss – denn durch bestandene Aventiuren kann ein Mann Ruhm und Ansehen (zurück-/) erlangen.
Man kann den Text auf die Konzepte von Männlichkeit und Weiblichkeit hin untersuchen. Es gibt einen großen Unterschied zwischen den biologischen Geschlechtern und den kulturellen, höfischen Anforderungen an diese Rollenkonzepte.
Man kann den Text auch noch auf viele andere Aspekte hin untersuchen.
Sobald man diesen mehrdimensionalen Bereich von einer zusätzlichen Bedeutungsebene betreten hat, wird der Text nochmal komplexer und man fragt sich, was das hier eigentlich aussagt. Oder was es vielleicht aussagen könnte. Dabei geht es nicht um den Versuch zu rekonstruieren was dieser ominöse „Hartmann von Aue“ eigentlich gemeint haben könnte. Es macht einfach Spaß im kulturellen Informationsspeicher zu graben und es ist interessant verschiedene Perspektiven einzunehmen – zum Beispiel rund um Szenen herum, die einem beim ersten „blauäugigen“ Lesen komisch vorkamen.
Wie die Tatsache wie sehr Kampf und Männlichkeit miteinander verwoben zu sein scheinen. Am Anfang der Geschichte, als der noch unerfahrene Erec dem Zwerg begegnet, der ihn peitscht. Erec ist ohne Rüstung und Waffen unterwegs und hat dieser schmachvollen Erfahrung nichts entgegenzusetzen. Dabei setzt der Text diese Szene explizit mit Weiblichkeit gleich – nicht nur dass es Erec genauso ergeht wie der Hofdame, die gerade erst auf die selbe Weise vom Zwerg gepeitscht worden ist. Sondern da steht auch wörtlich drin Erec war nackt und bloß (/=ungerüstet / unbewaffnet) wie eine Frau.
Daraufhin erbittet Erec sich von Königin Ginover (Artus‘ Frau) mit der er unterwegs war, drei Tage um seine Ehre zurückzuerlangen.
Überstürzt, ungerüstet und unbewaffnet verfolgt er die 3 zu denen der Zwerg gehört (ein Ritter, eine Frau und ein Zwerg).
Erec kehrt in einem scheinbar verlassenen Haus ein (er hat kein Geld und die Stadt ist voll; in die Burg will Erec nicht um inkognito zu bleiben) und trifft dort einen verarmten Adligen (Graf Koralus), der kein Geld hat, sich aber so tugendhaft verhält, wie das von einem Mann von Stand erwartet wird.
In diesem Haus wohnt auch die arme aber wunderschöne Enite, denn sie ist Koralus‘ Tochter. Da es keine Bediensteten gibt, kümmert sie sich um Erecs Pferd. Der Text verwendet blumige Wörter um Enites weiße Haut zu beschreiben, die unter den zerschlissenen Kleidern hervorblitzt. Mit Metaphern wird nicht gespart, wie auch im Rest des Romans nicht.
Wir erfahren wer der Ritter ist, an dem sich Erec rächen muss – denn der Ritter gehört zu dem Zwerg und als höher stehender Adliger ist die Schuld, die der Zwerg auf sich lädt mit seinem Fehlverhalten, auch die Schuld des Ritters.
Der „böse“ Ritter Iders ist zum Sperberturnier in die Stadt gekommen – die Stadt zu der auch Koralus Haus gehört.
Was ist das Sperberturnier? Angeblich geht es darum wer die schönste Frau ist – die schönste Frau darf nämlich den Sperber von seiner Stange nehmen. Allerdings ist die Frage um die schönste Frau untrennbar damit verknüpft, wer der stärkste und mutigste Ritter ist. Der beste Ritter hat natürlich die schönste Frau, ist ja klar.
Für Erec wird klar was zu tun ist – mit Enite hätte er die schönste Frau und er muss Iders beim Turnier besiegen, um sich zu bewähren und seine Schande los zu werden. Dafür verspricht er Enites Vater Enite anschließend auch zu heiraten.
Koralus gibt Erec eine Rüstung und Waffen. – Die ihm wie angegossen passen, was vielleicht zeigt, dass das hier Erecs Bestimmung ist. Dass Erec dazu bestimmt ist, ein großartiger Kämpfer und Ritter zu sein.
Erec und Enite gehen zum Turnier, Enite nimmt den Sperber und es kommt zum Kampf zwischen Iders und Erec. Sie kämpfen unrealistisch lange und heftig – das ganze Buch wimmelt von solchen Kämpfen und als treue Fantasyleserin musste ich häufig darüber lachen, wie überzogen diese Kämpfe dargestellt sind. Oftmals einfach unrealistisch.
Interessanterweise kommt es beim Kampf zu einer Pause mit der Begründung sie kämpfen so erschöpft dass es sich nicht für Ritter geziemt – sie kämpfen nicht mehr „männlich“.
Enite steht bei dem Kampf vor Sorge weinend daneben.
Natürlich gewinnt Erec den Kampf – es ist eine absolute Rarität dass der ritterliche Held in einem Artusroman einen Kampf in seinem eigenen Roman verliert. Im Erec kommt das ein mal vor, als Erec verwundet ist. Gegen einen Gegner, den Erec zuvor schon einmal besiegt hatte (König Guivreiz der Kleine).
Ein guter Ritter ist nicht nur siegreich, sondern verhält sich auch moralisch richtig. Mehrfach beweist Erec dass er besonders gute Manieren hat, indem er das Leben seiner höfischen Gegner verschont, ihnen Zeit zum Aufstehen gibt, sich waffentechnisch mit ihnen auf die gleiche Stufe stellt wenn er es theoretisch nicht müsste etc.
Nach dem bestandenen Sperberturnier scheint es das perfekte Happy End zu geben. Erec hat sein Ansehen (/seine Ehre) zurückerlangt, er hat die schönste Frau der Welt gefunden und kann sie heiraten und er darf in seinem Land regieren. Es gibt ein Turnier bei dem Erec der tollste ist und seinen Leuten einen Sieg beschert. Enites Familie erhält kostbare Geschenke und wird aus der („unverschuldeten“) Armut befreit.
Wenn man weiß wie es weiter geht, sieht man allerdings, dass es sich eigentlich nur um einen Schein-sieg handelt. Durch das verligen verliert Erec sein Ansehen erneut. Er hält nämlich zwischen Minne und Herrschaftspflichten nicht das richtige Maß.
Es kommt also zur neuen Aventiurefahrt (die sich als eine Aneinanderreihung mehrerer Aventiure-Fahrten herausstellt) und zum Sprechverbot für Enite.
Erec befiehlt ihr zu Schweigen mit der Drohung sie sonst zu töten (was er aber dann nicht umsetzt). Außerdem wird sie seines Bettes und Tisches verwiesen bei den Übernachtungen auf der gemeinsamen Reise, was eigentlich eine typische Strafe für Ehebruch ist. Und Enite muss sich zur Strafe dafür dass sie das Verbot mehrfach missachtet, um Erec zu warnen und somit zu retten die erbeuteten Pferde hüten. Eine schwere und überfordernde Aufgabe, über die sich Enite aber nicht beklagt.
Obwohl der Erzähler selbst im Roman mehrfach in Erscheinung tritt durch Kommentare oder fiktive Dialoge zwischen ihm und „uns“, seinem Publikum, gibt es keine einzige, explizite Erklärung dafür, warum Enite am verligen Schuld ist und warum sie nicht sprechen darf.
Das Sprechverbot zieht sich durch einen großen Teil des Romans und man wird einfach nicht schlau daraus – zu dem Thema gibt es mehrere Forschungstexte, die versuchen einen Kontext und / oder eine Erklärung dafür zu finden.
Will Erec insgeheim dass Enite das Verbot bricht? Es könnte ja sein dass ihr eigentlicher Fehler darin bestand Erec nicht früher oder nicht mit Absicht darüber aufgeklärt zu haben wie sauer Erecs Hof über das verligen ist.
Oder es könnte sein, dass es eine Strafe dafür ist, dass die beiden trotz ihres Standesunterschiedes überhaupt geheiratet haben (Enite ist zwar adlig gewesen aber verarmt). In diesem Fall müsste und wird auch Erec dafür bestraft, aber auf andere Weise. – die Ständegesellschaft wurde im Mittelalter als eine gottgegebene Ordnung betrachtet.
Wieso kritisiert Enite ihre schlechte Behandlung durch Erec nicht, sondern tut so als wäre das gerechtfertigt? In eigenen Rede- oder Gedankenanteilen erfahren wir als Publikum was in Enite vorgeht. Dass sie abwägt ob sie Erec warnen soll (vor der jeweils akuten Gefahr) auch wenn sie dafür ihr Leben opfert. Aber über der Sprechverbot an sich regt sie sich nie auf.
Enites Aufopferungsbereitschaft, die im Text eher positiv dargestellt wird (so nach dem Motto als liebende Frau macht man das halt so), ist aus heutiger Perspektive extrem und verrückt. Nachdem Erec zwei Riesen besiegt und dabei einen Adligen gerettet hat, fällt er ohnmächtig und somit scheintot vom Pferd. Wir und der Erzähler wissen dass Erec nicht lebt, aber Enite glaubt er sei tot. Seitenweise schreit sie ihre Verzweiflung heraus, diskutiert mit Gott und verlangt zu sterben. Was soll sie denn noch auf der Welt wenn ihr Erec tot ist? Schließlich nimmt sie Erecs Schwert und will sich damit erstechen, als ein von Gott gesandter Graf daher kommt und sie rettet. Denn wegen Enites Schönheit hat er sich prompt in sie verliebt und will sie deshalb heiraten.
Graf Oringles nimmt Enite und den für tot gehaltenen Erec mit auf seine Burg. Erec wird in Leichentücher gehüllt aufgebahrt und Enite muss währenddessen gegen ihren Willen am Hochzeitsbankett teilnehmen, denn Oringles will sie heiraten, egal was Enite dazu zu sagen hat. Die Gäste finden das auch nicht richtig aber das ist Oringles egal.
Enite will nach wie vor sterben. Sie schreit und sie provoziert bis Oringles sie schlägt – das darf er tun, denn sie ist ja seine Frau und es ist seine Sache was er mit ihr macht. Das erklärt er auch einem kritischen Hochzeitsgast. Enite aber wittert ihre Chance. Sie will Oringles so sehr provozieren dass er sie tot schlägt, denn sie will sterben weil Erec tot ist und sie will auf keinen Fall einen anderen heiraten.
Enites Stimme entfaltet eine nahezu magische Wirkung. Der schwer verwundete, aufgebahrte Erec hört sie, erhebt sich und stürmt das Bankett.
Dort wird jeder niedergemetzelt der nicht schnell genug weg ist. Einschließlich Oringles.
Erec und Enite fliehen und nun endlich wird das Sprechverbot aufgehoben und Erec entschuldigt sich dafür wie er sie behandelt hat. Hat Enite durch ihre verrückte Auffassung von Liebe jetzt also endlich ihre Treue bewiesen? Wieso stand ihre Treue überhaupt in Zweifel?
Ein paar Plot relevante Figuren:
Guivreiz le petit, der kleine König von Irland der unfassbar tapfer ist, ein guter Kämpfer und ein guter Freund. Einmal wird er von Erec besiegt und einmal besiegt er (den verwundeten) Erec (den er wegen seiner Rüstung nicht erkannt hat – bei diesem Kampf greift Enite ein, indem sie auf die Verwundung hinweist und um Gnade bittet. So rettet sie Erec)
Enite die schönste Frau der Welt, die Erec mehr liebt als ihr Leben
Mabonagrin der Baumgarten-Ritter, der mit seiner Frau eine ganz merkwürdige Vereinbarung getroffen hat, weshalb er Gegenstand der gefährlichsten Aventiure (Joie de la Curt) ist und mit seiner Frau im Baumgarten lebt.
Oringles, der Enite heiraten will und sie davor rettet sich selbst zu töten.
Der Zwerg von Iders, der die Hofdame und Erec gepeitscht und so entehrt hat
Ich könnte noch ewig so weiterschreiben.
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Gedankenpilze